Über den Einzug in ein Haus, ob neu, ob alt, wurde viel geschrieben: über die Befindlichkeit der Einziehenden oder Umziehenden, Rückblicke auf Vergangenes, Ausblicke auf Neues. Emotionen. Meine Gefühle waren beim Einzug in die Marienstraße 23 gedämpft, geprägt von der Erschöpfung des Umzuges, getrübt vom Abschiedsschmerz nach 17 Jahren in einer nördlichen Nachbarschaft.
Da saßen wir nun im selbst gewählten Berlin-Mitte-Umfeld, der Mann meines Lebens und ich, schauten in Zimmer, in denen sich die Umzugskartons stapelten, gingen durch die noch unvertraute Straße, grüßten zögernd in fremde Gesichter: Wir sind die Neuen.
Das sind wir oft gewesen, wenn der Beruf zu Ortswechseln zwang, aber jetzt ist es anders. Niemand zwingt uns, in Berlin zu wohnen, in Ostberlin, wie die Westberliner Freunde fassungslos feststellen.
Wenn es nicht passt, sagt er, dann ziehen wir an den Schlachtensee oder nach Charlottenburg, nach Wilmersdorf. Zugleich wissen wir, dass Aufgeben nicht unsere Sache ist. Was also tun gegen dieses Gefühl, hier und jetzt nicht anzukommen?
Wir erinnerten, dass der Bauleiter erwähnte, ein berühmter Wissenschaftler, Friedrich Accum habe vor fast 200 Jahren das Haus gebaut, dass es weitere berühmte Besitzer und Bewohner gehabt und 1945 temporär als sowjetisches Gefängnis gedient hatte. Unsere Neugier war geweckt. Vielleicht würde es gelingen, uns recherchierend mit dem Haus und seiner Geschichte zu verbinden.
Mach du, bat ich, die Feindin aller Safaris und Firefoxe und flanierte straßauf-straßab, betrachtete die renovierten Häuserfassaden, entdeckte Erinnerungstafeln an ehemalige Bewohner: Maler, Komponisten, einen berühmten japanischen Schriftsteller. An unserem Haus fehlten diese Informationen: keine Gedenktafel, kein Stolperstein. Das Internet hingegen erwies sich als Glücksfall und verführte bald auch mich zum Suchmaschineneinstieg.
Gemeinsam im Netz der unendlichen Möglichkeiten, der unwahrscheinlichsten Informationen: Accum, der Erbauer, in Hannover zum Apothekergehilfen ausgebildet, wird in London zu einem der ersten und bedeutendsten Chemiker, stolpert über ein heute lächerlich erscheinendes Delikt, verurteilt, gelingt ihm die Flucht nach Preußen, wo er die staunenden Berliner mit der Gasbeleuchtung ihrer finsteren Straßen beglückt.
Mit seinem Sohn ziehen die exotischen Gerüche von Kolonialwaren ins Haus, ein jüdischer Pferdehändler aus der Neumark im heutigen Polen baut im Garten Ställe. Pferdeknechte, Hufschmiede und Kutscher finden wir im Melderegister. Und Dr. Schweigger, Professor an der Charié, etabliert in der Marienstraße 23 eine private Augenklinik, in der er wohlhabende Schielende von ihrem Leiden befreit.
Es wird gebaut und umgebaut, moderne Techniken werden installiert: Gasbeleuchtung, Wasserclosets. Mieter ziehen ein, ziehen aus. Fasziniert betrachten wir die digitalisierten Berliner Adressbücher: Adlige Witwen und ehemalige Rittmeister finden sich, Schauspieler der nahen Theater, Privatiers (Lebensform statt Beruf?), ein Untermieter, bei dessen Namen wir innehalten: Ulrichs, Karl Heinrich. War das nicht jener junge Jurist im preußischen Staatsdienst, der Mitte des 19. Jahrhunderts sein Coming-out hatte, die Streichung des § 175 forderte und vor seiner Verhaftung aus Berlin fliehen musste? Staunend verfolgen wir seine Spuren bis nach Neapel, wo er unbehelligt leben, lieben und eine Existenz als Schriftsteller aufbauen konnte.
Lebensspuren, nachgelesen in Archiven und Bibliotheken, nachgefahren an zuvor unbekannte Orte, regen zu immer neuen Recherchen an. Als 1929 mit dem Erwerb des Hauses durch eine jüdische Erbengemeinschaft, deren Mitglieder als Wissenschaftler, Künstler und Bankiers in die Geschichte eingegangen sind, der Informationsberg zu unübersichtlicher Größe anzuwachsen beginnt, fühlen wir uns fast hilflos dieser Flut an Namen und Daten ausgeliefert, die in den 1930er-Jahren mit der Arisierung des Hauses ein plötzliches Ende nehmen.
Damit könnte auch Schluss mit unserer Recherche sein, sind doch Krieg, Teilung der Stadt, Mauerbau und Mauerfall bereits Teil unserer eigenen Geschichte. Aber die Erbauer, Besitzer und Bewohner haben sich längst in meinem Kopf festgesetzt und begonnen, mich in Fragen zu verwickeln. Sollte ich sie zum Schweigen bringen? Die ausgedruckten Papierstapel in die Tonne werfen? Oder sollte ich von den Menschen im Haus und in der Straße erzählen, deren Einzelschicksal zugleich das der Gesellschaft abbildete, hilflos den Zeitläuften ausgeliefert oder – allen Widrigkeiten trotzend – es selbst gestaltend? Und dann war da noch das Gerücht vom sowjetischen Gefängnis, das mir keine Ruhe, mich weitersuchen und das Haus ins Buch finden ließ.
Bildlegende: Bild 1: Der Chemiker Friedrich Accum (1769–1838). Stich von James Thomson im European Magazine, 1820, © Wikimedia Commons; Bild 2: Porträt des Augenarzts Prof. Dr. Carl Ernst Theodor Schweigger (1830–1905), © Wikimedia Commons; Bild 3: Preisliste der »Englischen Theehandlung« (1833) von Friedrich (Fredrick) Ernst Accum in der Marienstraße 16 (später 23), Quelle: Kooperative Provenienzdatenbank Looted Cultural Assets; Bild 4: In der Nacht vom 3. zum 4.12.1961 wurde begonnen, an weiteren Abschnitten die Staatsgrenze der DDR zu Westberlin zu festigen, © Bundesarchiv, Bild 183-88574-0004 / Stöhr / CC-BY-SA
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