Literaturfestivals erfreuen sich großer Beliebtheit. Wie man ein interessantes Programm auf die Beine stellt und warum Festival wie Kino in echt ist, diskutieren die Festivalorganisatorinnen Julia Knapp und Tabea Steiner mit Verlegerin Anne Rüffer.
Tabea Steiner: Für mich begann dieses Abenteuer 2006 in Thun; ich habe damals Germanistik studiert und mich für Literatur interessiert, und deshalb habe ich Lesungen organisiert. An einem Kulturforum der Stadt Thun kam die Idee auf, ein Kulturfest aufzubauen. Daraus entstand 2004 das Konzept des Festivals »literaare«, 2006 war der Start, und in diesem Jahr sind wir 15 Jahre alt geworden. Kurz: Es war die Lust, etwas auszuprobieren, etwas zu wagen.
Julia Knapp: In Zofingen war es die Mäzenin Christine Siegfried, die 2005 anlässlich des Jubiläums »190 Jahre diplomatische Beziehungen Schweiz-Russland« die Idee zu einem Literaturfestival in Zofingen hatte und ihre private Villa dafür zur Verfügung stellte. Sie scharte einen Kreis von Freiwilligen um sich und organisierte die erste Ausgabe der Literaturtage Zofingen. Der Erfolg war riesig, als Nächstes wollte man chinesische Literatur präsentieren, allein, dafür fehlte das Geld. Als die Frankfurter Buchmesse 2009 China als Gastland präsentierte, beschloss das Team um Siegfried, sich von nun an am Gastland der Frankfurter Buchmesse zu orientieren. Für jeweils drei Tage im Jahr konzentriert sich Zofingen auf das literarische und kulturelle Schaffen eines Landes. Nebst der Literatur gibt es Musik und Vorträge, manchmal auch kulinarische Entdeckungen.
Wie geht ihr bei der Programmgestaltung vor?
TS: Bei uns trifft sich das Programmteam mehrmals im Jahr und diskutiert über die Bücher und Autoren, die uns interessieren. Wir geben uns keine Vorgaben, wir setzen auch nicht auf Themen, höchstens wenn wir beispielsweise feststellen, dass bereits drei Frauen »gesetzt« sind, schauen wir, dass wir noch einen geeigneten Mann finden.
JK: Für uns ist entscheidend, welche Autoren des jeweiligen Gastlandes nach Frankfurt kommen und welche gewillt sind, vor der Heimreise einen Halt in Zofingen einzulegen. Unser Festival findet stets am Wochenende nach der Buchmesse statt. Also sind wir darauf angewiesen, dass die Verlage mithelfen und für ihre Autoren weitere Lesungen organisieren, bis sie dann zu uns kommen. Unser Ziel lautet: So viele zeitgenössische Autorinnen und Autoren wie möglich zu präsentieren. Wenn Norwegen zu Gast ist, ist es einfacher, als wenn die Autoren aus Lateinamerika stammen.
TS: Wir wollen ein vielfältiges Programm bieten und laden oft auch LyrikerInnen ein, es gab auch schon Autoren von Graphic Novels; wichtig ist uns, dass das Programm stimmig ist und alles zueinanderpasst. Seit ein paar Jahren gibt es das Format »Stimmen von Thun«, dort präsentieren jüngere Autoren aus der Schweiz ihre Arbeiten.
Wie entdeckt ihr Autorinnen?
JK: Dieses Jahr ist Kanada zu Gast, und natürlich kenne ich Alice Munro. Doch die jungen Stimmen entdecke ich gerade, z. B. Michelle Winters, deren Buch »Ich bin ein Laster« bei Wagenbach erschienen ist. Zum Schreien komisch! Sie passt ideal zu Zofingen, denn bei uns finden keine wissenschaftlichen, elitären Debatten statt – unser Publikum sind Menschen, die hier leben und Interesse an Literatur zeigen, die sich einen anregenden und unterhaltsamen Abend gönnen möchten.
TS: Unser Anliegen ist es, die Breite der Literatur darzustellen. Wir lesen querbeet und freuen uns über Empfehlungen. Wir sind eine große Gruppe und vertrauen einander, und durch die Empfehlungen der anderen entdecke ich sehr vieles, denn wir haben ganz unterschiedliche Vorlieben. So findet man neue Stimmen aus der Schweiz, aber auch aus Deutschland. Zudem schaue ich mir Verlagsprogramme an, gehe an Lesungen und Messen, mich interessieren Blogs, auch Kritiken in der Presse. Es geht um eine gelungene Mischung aus bekannten und ganz frischen Stimmen.
Die großen Stars – wollt ihr die und wollen die zu euch?
JK: Also, wenn beispielsweise das Werk einer Starautorin in einem Schweizer Verlag publiziert wird und sie bereit wäre, zu uns zu kommen, würde ich mich auf jeden Fall um sie bemühen. Das wäre jetzt bei Alice Munro eindeutig der Fall: Sie ist Kanadierin, die einzige Literaturnobelpreisträgerin des Landes und erscheint im Zürcher Dörlemann Verlag auf Deutsch. Die Grande Dame ist leider schwer krank, deshalb planen wir auf jeden Fall einen Munro-Abend mit einer Sprecherin und der Verlegerin. Bei Margret Atwood wäre das anders die wäre eine Nummer zu groß, ihre Gage wäre für uns nicht tragbar.
TS: Wir hatten Kontakte mit einem tollen Autor, doch seine Gage hätte 15 000 Dollar betragen. Plus Spesen! Das wäre die Summe für alle AutorInnen gewesen, und da sagen wir klar Nein. Große Namen sind zwar toll, aber die Medienarbeit wird dadurch erschwert: Alle stürzen sich auf den Star und interessieren sich kaum für die neuen Stimmen. Das Festival wird ja nicht für den Star veranstaltet, und alle anderen sind Statisten. Für mich sind alle gleich wichtig – sonst stimmt es nicht.
Was ist das Interesse der Autoren, an euren Festivals aufzutreten?
JK: Festival macht immer Spaß. Es ist ein Begegnungsort, man trifft andere Autoren, es entsteht eine energiegeladene Dynamik, durch die man sich getragen fühlt. Festivals sind beliebt, die Resonanz ist groß, und es ist enorm unmittelbar. Das Publikum bleibt nach der Veranstaltung, es findet ein lebendiger Austausch statt.
TS: Jedes Festival hat eine eigene Dynamik, deshalb erinnere ich mich auch so gut an jede Ausgabe. Es geschieht etwas zwischen den Menschen, in den Diskussionen, auch danach – es ist ein Fest.
Wird man als Festivalleiterin reich?
Unisono: Nein! Man ist froh, wenn es sich trägt.
TS: Für Bern haben wir ein kleines Budget für uns selbst, Thun ist reine Ehrensache.
JK: In Zofingen gibt es auch eine Entschädigung, aber wenn man das auf einen Stundenlohn umrechnen würde, dann – rechnet man lieber nicht ...
Wenn nicht Geld, was ist es dann?
JK: Es ist immer schön, etwas aufzubauen. Gemeinsam mit anderen etwas auf die Beine zu stellen, das ist toll, da herrscht ein Spirit, mit dem man mitgeht.
Wie haltet ihr die Balance zwischen Kunst und Kommerz?
TS: Zu Beginn haben wir in Thun »Headliners« eingeladen – wir dachten, die ziehen dann die Leute an. Darunter auch Autoren, deren Bücher uns nicht so interessiert haben, die aber »bekannt« waren. Und das ging jedes Mal schief, das machen wir nicht mehr.
Es sind Gemeinden rund um Thun dabei wie Steffisburg, und die möchten ihre Künstler vorstellen. Das ist nicht ganz einfach, denn es gibt in der Region nicht viele Literaten. Dann laden wir z. B. eine Musikerin aus einer Gemeinde für die Eröffnung ein.
JK: Manchmal kommen Anregungen aus dem Publikum, die wir gerne prüfen. Oder die Botschaft des Gastlandes hat einen Sonderfördertopf für bestimmte Minderheiten. Darin besteht allerdings auch eine Schwierigkeit, denn ich will gute Literatur vorstellen und freue mich, wenn es dafür Unterstützung gibt. Aber es passt nicht zu uns, Bücher vorzustellen, weil es dafür Geld gibt.
Wer ist für euch die größte Konkurrenz, besonders, wenn es um das liebe Geld geht?
JK: Bei der Förderung ist es ganz gut, nicht zu wissen, wer von den anderen wie viel Geld bekommt. Wir müssen uns ohnehin stets an die entsprechende Botschaft wenden und an Kulturförderer, die offen für nicht-regionale Themen sind, denn in der Regel haben unsere GastautorInnen nichts mit der Schweiz, geschweige denn mit Zofingen zu tun.
TS: Thun hat ein gutes Kunstmuseum und die Bach-Wochen; beide erhalten viel Geld und haben bezahlte Stellen. Wir bekommen einen kleinen fünfstelligen Betrag, außer uns gibt es dort kaum literarische Veranstaltungen. Am Anfang bekam ich CHF 400 für die AutorInnen, den Rest habe ich selbst bezahlt. Inzwischen kooperieren wir mit den Bach-Wochen, das stärkt die lokale Verankerung – Konkurrenzdenken hat da keinen Platz. In Thun ist die Kulturabteilung sehr wohlwollend, doch deren Mittel sind beschränkt.
JK: Für uns beide wie für Musikfestivals sind es die gleichen Konkurrenten: Fußballspiele. An einem Abend, an dem ein wichtiges Spiel angesagt ist, eine Kulturveranstaltung ansetzen zu wollen ... oder die lokale Konkurrenz, denn in Zofingen wird viel geboten, vonseiten der Stadt wie von anderen kulturellen Vereinen. Wir müssen uns gut absprechen!
Wie bleibt man als Festival authentisch und überraschend?
TS: Wir stellen uns jedes Jahr die Frage neu, ob wir Lust haben weiterzumachen. Für mich ist entscheidend, dass ich noch viele AutorInnen einladen und vorstellen möchte. Und es kommen nach wie vor neue dazu und darauf verlasse ich mich.
JK: Meine Auswahl bestimmt die »Nachttischfrage«: Wenn ein Buch nicht mit in mein Schlafzimmer darf, dann wähle ich es nicht aus. Das Publikum spürt sofort, ob jemand aus vollem Herzen eine Leseempfehlung ausspricht oder ob man nur halbherzig bei der Sache ist.
Kann man ein Programm im Team entscheiden oder seid ihr beiden die Bossinnen?
TS: In Bern gestalte ich die Lyrik-Reihe; mit Sandra Künzi bin ich für die Reihe der Kombinationen und die politische Reihe zuständig. Wir stimmen uns ab, und das geht jedes Mal gut.
In Thun kann jede/r aus der Programmkommission ein oder zwei Slots belegen und völlig frei ihre/n respektive seine/n LieblingsautorIn einladen.
Was ist das Schönste und was das Schwierigste bei eurer Aufgabe?
JK: Das Schönste ist die Reaktion der Besucher, vor allem wenn es gelingt, sie zu überraschen. Oder dass sie einen Zugang gefunden haben und vorher gar nicht wussten, dass sie einen suchen. Das ist toll, man hat das Gefühl, etwas richtig gemacht zu haben. Schlimm ist, wenn ein Autor oder eine Autorin unglücklich ist mit dem Abend. Wenn es einfach nicht passt, wenn es nicht funktioniert, der Funke nicht springt. Zum Glück passiert das nur äußerst selten.
TS: Die Dinge, die geschehen, die Dialoge, das Unvorhersehbare, dass manchmal sogar Freundschaften entstehen – das finde ich sehr, sehr schön.
Schwierig ist, dass man auswählen muss. Mit jeder ausgesprochenen Einladung fühlt es sich für mich wie unzählige Nicht-Einladungen an. Diese Erfahrung habe ich jedoch erst gemacht, seitdem mein Roman (»Balg«, 2019) erschienen ist. Jetzt kenne ich eben auch die andere Seite. Wenn ich ein Buch von jemandem mag, den Autor oder die Autorin aber trotzdem nicht nach Thun oder Bern einlade, habe ich auch schon Enttäuschung gespürt.
Was war eure ultimative Sternstunde bisher?
TS: Für mich die Eröffnung mit Michael Köhlmeier 2019 in Thun. Er ist ein großartiger Erzähler und hat sich total auf unser Gespräch eingelassen.
JK: Anna-Katherina Hahn habe ich in Marbach erlebt. Und die hat mich umgehauen – selbst heute, 10 Jahre später höre ich ihre Stimme, wenn ich Texte von ihr lese. Sie war so unglaublich nah an ihren Texten und konnte diese Innerlichkeit vermitteln.
Was wollt ihr noch unbedingt sagen, wonach ich nicht gefragt habe?
JK: An alle Zweifler: Ich habe es noch nie erlebt, dass jemand sagte, es habe sich überhaupt nicht gelohnt, an ein Festival zu gehen. Es lohnt sich eigentlich immer, etwas Literarisches zu
wagen. Es ist wie Kino in echt!
TS: Perfekt formuliert!
Literaare | Das 2004 ins Leben gerufene Projekt literaare präsentiert am dreitägigen Thuner Literaturfestival sowie an weiteren Anlässen aktuelles literarisches Schaffen. Eingeladen werden nebst renommierten SchriftstellerInnen auch jüngere, weniger bekannte Talente. Klassische Lesungen werden ergänzt von Poetry Slams, Konzerten, Vorträgen, literarischen Taxi- oder Zugfahrten und Stadtrundgängen. www.literaare.ch
Berner Lesefest Aprillen | Schon sechsmal hat das Aprillen im Schlachthaus Theater Bern stattgefunden. Vielsprachige Lyrik, politische Literatur, aufregende Kombinationen, Late Nights, Mittagslesungen in der Bibliothek Münstergasse oder auch Familienlesungen mit den Nominierten des Schweizer Kinder- und Jugendbuchpreises berauschen das Publikum während vier Tagen. www.aprillen.ch
Literaturtage Zofingen | Jeweils am Wochenende nach der Frankfurter Buchmesse reisen AutorInnen aus dem Gastland an. Der Gastlandauftritt Kanadas wurde auf 2021 verschoben. Darum sind in diesem Jahr Schweizer AutorInnen zu entdecken – und zwar nur solche, die in Schweizer Verlagen publiziert werden. Frei nach dem Motto »Zu Gast zu Hause«, denn auch hier gibt es viel zu entdecken! http://literaturtagezofingen.ch
Bildlegende: links: Tabea Steiner, Literaare, Aprillen; rechts: Julia Knapp, Literaturtage Zofingen. © Felix Ghezzi
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