Esther Widmer ist Kunsttherapeutin auf der Palliativstation des Kantonsspitals Olten. Ich durfte ihr einen Tag lang über die Schulter schauen und spüren, was es heißt, schwer kranke Menschen auf ihrem Weg zu begleiten – manchmal bis zum Ende.
10 Uhr: Esther Widmer holt mich beim Empfang des Kantonsspitals Olten ab. Sie hat sich zuvor bereits in die Akten der PatientInnen auf der Palliativstation eingelesen und ist über ihre Befunde und ihr Befinden informiert. Für sie als Kunsttherapeutin spielt die exakte medizinische Diagnose nur eine nebensächliche Rolle, denn im Zentrum steht die Krankheit während ihres Besuchs bei den PatientInnen nicht. Um diesen Menschen, die nicht hinter ihrer Krankheit verschwinden dürfen, in diesem schwierigen Lebensabschnitt begegnen und sie begleiten zu können, braucht es viel Einfühlungsvermögen und Geduld. Dass daraus persönliche Beziehungen entstehen können, offenbart sich mir bereits auf dem Weg vom Haupteingang zur Palliativstation. Ein Patient grüßt Esther Widmer auf dem Gang und freut sich sichtlich, sie zu sehen. Sie verspricht, später bei ihm vorbeizuschauen.
Als Erstes zeigt mir Esther Widmer ihr Material. Sie hat zwei vollgepackte Wagen, die im Gang stehen, damit sich die PatientInnen oder ihre Angehörigen auch selbständig damit beschäftigen können. Der erste Wagen enthält Klanginstrumente aller Art. Vom Regenrohr über eine Kuhglocke bis hin zum Didgeridoo hat sie alles Mögliche auf ihrem Wagen versammelt. Bis auf das Didgeridoo können alle Instrumente ganz intuitiv und ohne Vorkenntnisse auch von Laien gespielt werden. Das Didgeridoo spielt Esther Widmer gerne für ihre PatientInnen, denn es wirkt mit seinem tiefen Klang auf viele beruhigend und kann, wenn man es während des Spiels berührt, auch auf einer taktilen Ebene erfahren werden.
Der Tastsinn hat auch bei der Maltherapie eine zentrale Rolle, erklärt Esther Widmer, als sie mir den zweiten Wagen zeigt, der mit allerlei Malutensilien gefüllt ist. Die meisten ihrer Bilder sind nämlich von Hand gemalt. Esther Widmer demonstriert mir, wie sie die Farbe direkt mit den Fingern aufträgt. Durch diese Methode entstehen einfachere, klarere Bilder als mit dem Pinsel. Das ist ein Kernprinzip des Lösungsorientierten Malens (LOM), nach dessen Methoden sie arbeitet: Es sollen Formen gemalt werden, die leicht und eindeutig erkannt und eingeordnet werden können, sodass sie bei der betrachtenden Person keine Verunsicherung oder Unruhe auslösen. Die Motive und deren Gestaltung kann sie subtil beeinflussen, vor allem, wenn sie selbst für die PatientInnen malt. Letzteres ist öfter der Fall, als sie anfangs dachte, verrät sie mir. Da viele PalliativpatientInnen nicht selber malen wollen oder können, hat sie ihre Therapiemethoden angepasst und malt oft selbst »nach Diktat« für die PatientInnen.
Doch nicht nur der Tastsinn und die visuelle Wahrnehmung, auch der Geruchssinn wird bei der Maltherapie angesprochen. Es gibt spezielle Farben, die mit Salbeiöl versetzt sind und so einen angenehmen und beruhigenden Duft verströmen. Esther Widmer erklärt mir, wie wichtig es sei, dass möglichst viele Sinne angesprochen werden, da das Erlebte so besser im Gedächtnis verankert und somit später besser erinnert werden kann.
11 Uhr: Wir besuchen zwei Patienten. Beide freuen sich, Esther Widmer zu sehen, der Erste fühlt sich jedoch zu schwach zum Malen und der Zweite hat gerade Besuch von einer freiwilligen Helferin. Das kommt nicht selten vor, denn die PatientInnen werden umfassend betreut: Nebst ÄrztInnenvisiten und Pflege können sie auch das Angebot von Sozialberatung, Seelsorge, Psychoonkologie, Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie, Ernährungsberatung, freiwilligen Diensten und natürlich Kunsttherapie in Anspruch nehmen. Esther Widmer ist froh, dass sie nicht an einen »Stundenplan« gebunden ist und verspricht dem Patienten, später nochmals vorbeizuschauen. Diese zeitliche Flexibilität ist auch wichtig, denn so kann sie so lange wie nötig bei den PatientInnen bleiben. Sie kann sich Zeit nehmen für Gespräche und fürs Malen. Während bei der Maltherapie außerhalb des Spitals über eine längere Zeitspanne hinweg Bilder gemalt werden, ist auf der Palliativstation nie klar, wie viel Zeit noch bleibt. Daher werden die Bilder in einer Sitzung fertig gemalt und nach dem Trocknen, wenn gewünscht, im Zimmer aufgehängt.
12 Uhr: Wir gehen zusammen mit einigen Pflegefachfrauen Mittag essen. Auch da hört die Arbeit nicht auf, und es werden einige Spitalerlebnisse geteilt. Esther Widmer erzählt mir, wie sehr sie diesen Austausch im Team schätzt. »Auf einer Palliativstation zu arbeiten ist nicht jedermanns Sache«, sagt sie, »denn man muss mit schwierigen Situationen und auch dem Tod umgehen können.« Da hilft es, wenn man auf Unterstützung aus dem Team zählen kann.
13 Uhr: Wir besuchen den Patienten, der am Vormittag beschäftigt war, nochmals. Er ist vom Besuch sichtlich angetan und erinnert sich gut, dass sie, als er vor ein paar Monaten das letzte Mal da war, zusammen gemalt haben. Malen möchte er heute nicht, aber zusammen sammeln die beiden Ideen, was sie beim nächsten Besuch malen könnten: Einen Panther möchte er gerne sehen, diese große und doch so leichtfüßige Katze fasziniere ihn. Er wünscht, sie solle doch in zwei Tagen wieder vorbeikommen.
14 Uhr: Zum Abschluss meines Besuchs darf ich dem interdisziplinären Rapport beiwohnen. Da versammeln sich Fachpersonen aus verschiedenen Disziplinen an einem Tisch und besprechen den Zustand der PatientInnen und beraten sich über die weiteren Schritte. Hier spüre ich ganz deutlich, mit welch aufrichtiger Anteilnahme, mit welchem Respekt und welchem Engagement sich diese Menschen für ihre PatientInnen und deren Angehörigen einsetzen. Sie setzen alles daran, diesen kranken Menschen ein möglichst selbstbestimmtes und würdevolles Lebensende zu ermöglichen.
15 Uhr: Auf dem Weg nach draußen schaue ich mir im Korridor die kleine Ausstellung mit Bildern an, die in der Kunsttherapie entstanden sind. Esther Widmer stellt die Bilder hier als Würdigung und Erinnerung an PatientInnen aus. So können sie sicher sein, dass von ihnen auch im Spital etwas bleibt, selbst wenn sie einmal nicht mehr da sind. Zusätzlich, und das liegt Esther Widmer besonders am Herzen, entsteht durch die Bildersammlung ein Gefühl von Gemeinschaft. Eine Gemeinschaft von Menschen – PatientInnen und Angehörige –, die auf der Station ein und aus gegangen sind, die gehofft und getrauert haben und ihren Weg gegangen sind – manchmal bis zum Ende.
Bildnachweis: © Vivian Tresch (links), @ Esther Widmer (rechts)
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