Eine Dichterin und ein Lyriker aus verschiedenen Kulturen sprechen über die Kraft der Natur und was die Natur für ihre Gedichte bedeutet.
Wie und wann, durch was seid ihr zur Lyrik gekommen?
Silvia Villars: Schon als Jugendliche habe ich sehr in der Welt der Poesie gelebt. Ich bin oft alleine in den Wald gegangen, wo sich für mich eine Sprachwelt eröffnet hat, in der ich die Resonanz mit der Natur erlebt habe. In der Schulzeit habe ich gerne Gedichte gehört und aufgesagt, und es ergab sich wieder ein Resonanzraum, der mich sehr erfüllte. Um die 40, sehr mit der Karriere im Finanzwesen befasst, ist in mir eine große Sehnsucht aufgetaucht, mich wieder intensiver mit der Lyrik zu befassen. Und so habe ich begonnen, Gedichte zu schreiben.
Jafar Rezai Sael: Ich las völlig Verschiedenes; alles, was ich finden konnte. Dann wurde ich in eine Gruppe eingeladen, in der man Gedichte von anderen Dichtern oder ein eigenes Gedicht vorgelesen und interpretiert hat. Der Leiter, ein Dichter, hat eine Gruppe von jungen Erwachsenen zusammengebracht, die sich äußern wollten. Ich war damals der Jüngste, zwischen 13 und 14. Viele aus der Gruppe haben mir wichtige Impulse gegeben; dadurch konnte ich anfangen, selber Gedichte zu schreiben.
Silvia Villars, selbständige Vorsorgeberaterin und Klangpoetin. Sie leitet die Poesiewerkstatt »Poesie & Natur«,
Infos unter www.erdenklang.ch
Bei dir, Silvia, liegt der Hauptfokus deiner Arbeit auf der Natur. Gab es einen Auslöser dafür?
SV: Neben der Natur gab es viele andere Themen in meinen Gedichten, die auch heute noch zum Tragen kommen. In meiner Jugend mochte ich vor allem Protestlieder, doch auf der Suche nach etwas, das für mich passt, bin ich auf die Natur gestoßen, denn darin steckt so viel. Wir alle sind ja ein Teil der Natur und darin eingebettet. Sie ist eine Meisterin in dem Sinne, dass sie alle Essenzen bündelt. Aus dieser Kraft und der Stille in der Natur entsteht eine Bewegung, die wiederum in den Sprachfluss führt.
Gibt es in der afghanischen Tradition eine starke Beziehung zur Natur oder eher nicht?
JRS: In Afghanistan leben 80 Prozent der Menschen von der Natur, sie sind Bauern, es ist kein Industrieland. Wir feiern traditionelle Feste für die Natur, und viele unserer Lyriker haben oft über die Natur geschrieben. Zudem gibt es eine Reihe von Dichtern, die ihre Kritik an der Regierung, an dem System der Herrschaft durch poetische Worte über die Natur zum Ausdruck bringen.
BAUM
Baum
du erbaust
mit deinen Armen
zum Himmel
mit deinen Wurzeln
zur Erde.
Silvia Villars, 2018
Habt ihr Vorbilder?
SV: Gewisse Dichter:innen begegnen mir immer wieder, sie sind wie Freunde aus dem Reich der Poesie. Nennen möchte ich zwei, nämlich Matsuo Bashō, einen japanischen Dichter, dessen Haikus – aus drei Zeilen mit zusammen 17 Silben bestehende japanische Gedichtform – ich sehr mag. Und die Libanesin Etel Adnan, eine Kosmopolitin, die letztes Jahr 96-jährig verstarb. Sie hat die arabische und westliche Welt auf faszinierende Weise verbunden.
JRS: Ein bestimmtes Vorbild habe ich nicht, denn ich lebe heute und ein anderer Dichter lebte in seiner Zeit, in einer anderen Atmosphäre – das passt nicht für mich. Allerdings gibt es viele Lyriker, die ich sehr mag, ich achte sehr auf das, was ich von ihnen lese.
Wenn ihr ein Gedicht schreibt – wie geht ihr vor und woran merkt ihr, dass es fertig ist?
JRS: Es ist ein langer Prozess – ich schreibe es, lege es zur Seite, lese es wieder, streiche vielleicht etwas, lasse es wieder ruhen. Ein Gedicht muss reifen, und fertig ist es, wenn ich zufrieden bin.
SV: Ich gehe raus in die Natur und warte, bis ich in die Resonanz komme. Wichtig ist für mich: Ich schreibe immer zuerst von Hand, aus der physischen Bewegung heraus entsteht etwas, das ich zu Papier bringe. Fertig ist das Gedicht, wenn ich es laut lese und spüre, dass es gebündelt und essenziell ist. Das kann mitunter bis zu einem Jahr dauern.
Jafar Rezei Sael, Dichter und Mitglied bei www.weiterschreiben.ch, kam Ende 2015 aus Afghanistan in die Schweiz.
Was gibt euch das Schreiben von Lyrik persönlich?
SV: Für mich ist Poesie ein Zeichen von Lebendigkeit und Identität, ich erfahre etwas über mich und die Welt, das ich vorher nicht gewusst habe. Es ist auch eine Art Mutprobe, denn wenn wir wirklich in die Sprache eintauchen und sie schriftlich darstellen, das, was daraus entstanden ist, laut sprechen, dann ist es eine Handlung und diese klingt an.
JRS: Da stimme ich zu, das habe ich in der Schweiz so erfahren. In Afghanistan ging es mir darum, viel mit wenig zu sagen und das in eine Welt zu schicken, die ungerecht ist, in der nur wenige Menschen lesen können. In Afghanistan kann man vieles nicht äußern, Gedichte geben uns jedoch die Möglichkeit, vieles sozusagen durch die Blume zu sagen, was offiziell nicht möglich ist. Lyrik hat mir beigebracht, vieles in wenigen Worten auszudrücken, das andere hören wollen und selber nicht formulieren können.
Und nun ist Frühling
Spürbar sind die Geräusche der Regentropfen,
die zart auf die Blätter eines Baumes fallen,
wie der Schmetterling, der sich auf einer Blume niederlässt.
Mein innerliches ICH befreit sich von mir,
wie die zwitschernden Vögel,
die am Himmel Kunststücke vorführen, um die echte Freiheit zu spüren.
Der Wind weht fein an die Bäume heran und streichelt sie mütterlich,
lässt die Tropfen des Regens auf den Boden fallen.
Die Wurzel des Baumes ist reich an Wasser.
Und ich warte mit absoluter Stille hinter dem Baum auf ein Tröpfchen, für meine Seele.
Jafar Rezei Sael, 2022
Können Gedichte die Welt verändern?
JRS: Schön wäre es.
SV: Ich schreibe, weil ich damit eine positive Botschaft übermitteln möchte. Es geht nicht darum zu missionieren, ich denke jedoch, dass uns die Welt die Antwort darauf gibt, was wir tun. Und die Poesie gehört zur Welt, darin steckt die Allgemeingültigkeit der Gedichte. Dichter:innen bündeln etwas, und jeder nimmt sich etwas, das ist das große Geheimnis. Aus diesen Samen entstehen wieder neue Blüten.
JRS: Poesie vermittelt, und jeder nimmt daraus, was für ihn oder sie wichtig ist: Gedichte sind mehr als die Worte, in denen sie geschrieben sind. So gesehen inspiriert die Poesie jeden von uns.
Bildlegende: © Felix Ghezzi
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