Für jedes komplizierte Problem gibt es eine einfache falsche Lösung. Das gilt auch für Erinnerungen. Sobald wir sagen: »Also, es war so ...«, haben wir schon angefangen zu lügen.
Seit ich angefangen habe, Bücher zu schreiben, beschäftigt mich bei jedem Projekt in ständig neuen Variationen immer wieder dieselbe Frage: In welchem Verhältnis stehen die Dinge, die passiert sind, zu den Geschichten, die wir über sie erzählen? Sind wir überhaupt in der Lage, uns an etwas so zu erinnern, wie es tatsächlich geschehen ist?
Der große Filmregisseur Akira Kurosawa hat diesem Erzähl-Problem einen Namen gegeben. Wenn Berichte über frühere Geschehnisse bei jeder Wiederholung unschärfer werden, bis sie sich schlussendlich gegenseitig ausschließen, sprechen wir vom Rashomon-Effekt.
Es ist ein Effekt, der nicht nur auf der großen Leinwand oder bei weltgeschichtlichen Ereignissen zum Tragen kommt, sondern dem wir im täglichen Leben permanent begegnen – meistens, ohne dass wir ihn überhaupt bemerken. Die brillante Antwort, die wir unserem Chef gegeben haben wollen, ist uns zwar erst hinterher eingefallen, aber wenn wir zu Hause davon erzählen, haben wir sie ihm tatsächlich an den Kopf geschmissen. Und nach der dritten Wiederholung glauben wir tatsächlich, es sei so gewesen.
»Treppenwitz« nennt man so einen nachträglichen Einfall, und wenn es nur um den Krach mit dem Vorgesetzten geht, mag es tatsächlich nur ein Witz sein. Aber immer mal wieder geht es um mehr. Aus »Fake News« wird »Fake History«, und aus »Fake History« manchmal »Real War«.
Und das nur, weil weder Individuen noch Völker in der Lage sind, sich an Ereignisse so zu erinnern, wie sie sich in Wirklichkeit abgespielt haben. Was wir für Erinnerungen an Tatsachen halten, sind in Wirklichkeit Erinnerungen an unsere eigenen Erzählungen davon, die ihrerseits auch immer schon Erzählungen über Erzählungen waren, und so weiter ad infinitum, bis das tatsächlich Geschehene im Nebel der Erinnerungen zur Unkenntlichkeit verschwimmt.
Wir tun das meist nicht, weil wir unehrlich sein wollen, sondern weil wir gar nicht anders können. Der Mensch ist das lügende Tier. Oder, um es neutraler auszudrücken, das erfindende Tier.
In einem meiner Romane habe ich einmal eine Figur, die gerade ein Geständnis abgelegt hatte, hinzufügen lassen: »Wenn ich nicht gerade diese Geschichte erfunden habe. Es wäre mir zuzutrauen.«
Es ist uns allen zuzutrauen. Wir lügen uns nicht nur die eigene Vergangenheit zurecht, sondern wir schaffen ein noch viel schwierigeres Kunststück: uns einzureden, dass diese Erfindung gar keine Erfindung ist, sondern die einzig mögliche Wahrheit. In der wir natürlich die Helden waren. Weil wir selbstverständlich das Richtige gedacht, das Richtige gesagt und das Richtige getan haben.
Der Mensch ist der Schöpfer seiner eigenen Geschichte. Oder, um es mit dem Vokabular der Literaturwissenschaft zu bezeichnen: Der Mensch ist ein unzuverlässiger Erzähler.
In Karl Rühmanns neuem Roman Der Held geben sich gleich zwei solcher unzuverlässigen Erzähler ein Stelldichein, allerdings nur brieflich, denn einer von ihnen sitzt hinter Gittern. Sie korrespondieren miteinander – man möchte sie in den Hintern treten, weil sie es so ausgesucht höflich tun –, sie beschuldigen sich und waschen sich rein, aber das zentrale Ereignis, das ihrer beider Leben bestimmt hat, lassen sie den Leser nur erahnen. Das ist der Kunstgriff, der die Lektüre dieses Buches so spannend macht.
Die beiden alten Soldaten haben Krieg gegeneinander geführt, einen jener ebenso endlosen wie überflüssigen Bürgerkriege, die im ehemaligen Jugoslawien bis heute nicht wirklich zur Ruhe gekommen sind. Der eine hat die Auseinandersetzung gewonnen, der andere hat sie verloren, der eine ist zum Helden erklärt worden, der andere zum Kriegsverbrecher, aber es wird immer klarer, dass es ebenso gut umgekehrt hätte kommen können. Das Erinnerungskaleidoskop wurde tausendmal neu gedreht, und welche Konstellation der tausend kleinen Teile am Schluss als die gültige galt, war vor allem dem Zufall geschuldet.
»Nichts ist wahr, bestenfalls halbwahr.«
Die Frau, die im Roman zu diesem Schluss kommt, ist auf der Suche nach der Wahrheit über den Tod ihres Mannes, der im Bürgerkrieg gefallen ist. War er Täter oder Opfer? Held oder Verbrecher?
Diese dritte Figur gibt den beiden anderen eine zusätzliche Dimension, indem sie gewissermaßen die Rolle des Lesers übernimmt und sich wie er immer wieder die Frage stellt, ob irgendetwas von dem, was da erklärt und behauptet wird, mit den tatsächlichen Ereignissen übereinstimmt.
Die Tat, um die das Buch in immer engeren Spiralen kreist, kann man dabei bis zum Schluss nur erahnen. Der Briefwechsel, den die Witwe heimlich mitliest, gibt keinen Aufschluss, denn die beiden Veteranen sind nicht an der Erinnerung an tatsächliche Geschehnisse interessiert, sondern haben in immer neuen Gedankenkurven immer nur ein Ziel: Im Recht gewesen zu sein.
Obwohl sie beide sehr wohl die Wahrheit des Satzes kennen, den einer von ihnen so formuliert: »Ein Soldat macht sich im Krieg immer schuldig, nur nicht immer vor derselben Instanz.«
Man möchte hinzufügen: Auch Held wird man nicht immer vor derselben Instanz. Karl Rühmann hat den Titel seines Buches sehr bewusst gewählt, es erzählt auch vom Bedürfnis der Öffentlichkeit nach Figuren, die man kritiklos bewundern und verehren kann – ein Bedürfnis, das schon manchem Populisten zu seiner Machtposition verholfen hat.
Ein Held gibt seinem Bewunderer die Gelegenheit, sich auch selbst als etwas Besseres zu fühlen. Der Fußballspieler, dessen Trikot wir uns überstreifen, gibt uns das geheime Gefühl, auch selber das Talent zum Meisterkicker zu besitzen, und die Schauspielerin, der wir auf dem roten Teppich zujubeln, lässt uns davon träumen, das beim nächsten Telefonanruf Hollywood in der Leitung sein wird.
Und vor allem: Da ein Held immer recht hat, haben auch wir recht, wenn wir uns hinter ihm einreihen. Ob es tatsächlich Heldentaten waren, die er vollbracht hat, oder doch nur werbetechnisch gut verkaufte Verbrechen, spielt für diesen Mechanismus keine Rolle. Wir bewundern den Helden, damit ein bisschen von dieser Bewunderung auch auf uns abfärbt.
Aber wehe, wenn er uns eines Tages enttäuschen sollte! Dann schlägt ihm blanker Hass entgegen, denn mit der Minderung seiner Glorie hat er uns auch ein Stückchen unseres Selbstbildes weggenommen. Und nichts fällt uns Menschen schwerer als zuzugeben, dass auch wir uns irren können.
Als uns einzugestehen, dass sich Geschehnisse nicht säuberlich in richtig oder falsch einteilen lassen, sondern dass die Wirklichkeit meistens das ist, was die Amerikaner SNAFU nennen: Situation Normal – All Fucked Up.
Zur Information: Der Text wurde von Charles Lewinsky geschrieben, bevor bekannt wurde, dass sowohl sein Buch »Der Halbbart«, als auch der Roman »Der Held« von Karl Rühmann für den Schweizer Buchpreis 2020 nominiert werden.
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