Auf drei Arten ist Biografie fundamental für uns Historiker: als Methode, als Anwendungsgebiet und als immer notwendiger Horizont von Sinn. Allzu lange ist das im Zug von sozialwissenschaftlichem Theoretisieren in Vergessenheit geraten, das über den Mächten und Kräften die einzelnen Menschen überging, aber auch infolge der Vernachlässigung des Individuellen durch geistesgeschichtlich orientierte Abstraktion, die sich allein Ideen und Mentalitäten widmete. Geschichte, der es um Zeitalter geht, und Biografie, die sich auf das Erlebte eines uns letztlich immer unerkennbaren Individuums beschränkt, können gegen beide Irrwege helfen und sich dabei wechselseitig in Schranken halten.
Von 1965 bis 2007 war meine Hauptbeschäftigung das Unterrichten des Faches Geschichte. Geschichte gilt (was nur in deutscher Sprache so möglich ist) als wissenschaftlich, und ihr Unterricht wird besser bezahlt als der in Kalligrafie, Kunst oder Sport. Mich störte diese Kategorisierung, denn abgesehen von der höheren Entschädigung waren Lehrpersonen dieser Fächer auch genötigt, mit ihren Noten über das Schicksal der SchülerInnen mit zu entscheiden. Weil Lernfortschritte in meinem Fach anders zu prüfen und zu beurteilen sind als solche in den exakten Wissenschaften, kam ich dazu, mich mit Didaktik zu beschäftigen. Und ich setzte mich für meine Fächer ein und für einen Begriff von Prüfung und Leistung, der die Erziehung zu klarem und genauem Denken ebenso wichtig fand wie die Erziehung zu demokratischem Dissens und der Fähigkeit zur Wahrheitssuche, die ja in Geschichte, Staatskunde und Philosophie das eigentliche Ziel ist. Dass eine Bewertung über Prüfungsfragen und richtige/falsche Antworten geschehen könnte, habe ich natürlich nie geglaubt. Mein Unterricht war nur möglich im Gespräch mit den Lernenden, bei dem es für keinen Lehrer darum geht, seine Meinung als die richtige durchzusetzen, soll doch das eigene Denken der jungen Menschen gefördert werden.
Jede Biografie bringt die Bedeutung des Nichtwissens zutage, das uns einschränkt.
Als in den 1990er-Jahren der Bundesstaat Jugoslawien im Verlauf blutiger Bürgerkriege zerfiel, schrieb ein verzweifelter Schriftsteller, man müsste allen Geschichtsunterricht während einer Generation verbieten, da aus ihm offenkundig nur Mord und Totschlag entstehe. Hatte er recht? Meiner Meinung nach nicht. Aber in der Tat gibt und gab es in Büchern und Aufsätzen, Hörsälen und Klassenzimmern schon immer heillose und wertvolle Geschichte. Warum eine unparteiliche Geschichte, die im Kern aus Biografien erinnerungswürdiger Menschen besteht, uns nottut, möchte ich begründen.
Zuerst kann Biografie dem Forscher methodisch wertvoll sein, weil sie die Geschichte als erlebte Zeit auf die Menschen bezieht, die sie geprägt und erlitten haben, von denen wir aber immer wieder realisieren, dass wir sie nicht so gut kennen wie die Helden in den Werken der großen Literatur. Kein Mensch in einer guten Biografie ist so durchsichtig wie die Personen der Dramen und Romane, auch wenn man glaubt, sie wenigstens so gut zu kennen wie sich selbst. Insofern ist gerade Heldenverehrung niemals Basis einer guten Biografie, sondern fragendes Staunen.
Jede Biografie bringt die Bedeutung des Nichtwissens zutage, das uns einschränkt. Sie bringt uns die beschriebenen Menschen näher, wobei diese Nähe nicht beim Verstehen hilft, auch wenn es zuerst so aussehen mag.
Der erste Denker, der in deutscher Sprache über das Prinzip guter Geschichte nachdachte – und es in dem entdeckte, was er Unparteilichkeit nannte –, war Sebastian Franck von Donauwörth (1499–1542), ein Außenseiter der Reformation. Er kam zum Schluss, dass Biografie besonders viel leisten könne, wo es um Befreiung durch Erkenntnis ginge; als Vorbilder für die wahrhafte Geschichtsschreibung neben den Autoren des Alten Testaments rühmte er ausgerechnet Tacitus und Sueton – zwei römische Historiker, die nicht eben bewundernde Kaiser-Biografien geschrieben haben. Indem sie sich gegen liebedienerisches Schreiben gegenüber den Machthabern entschieden, setzten sie nach Francks Auffassung einen für alle Zeiten gültigen Maßstab dafür, was Geschichte sein könnte, wenn sie nicht Propaganda sein soll.
Geschichte musste sich immer mit der Warnung vor Mythen beschäftigen, die sich der persönlichen Erinnerung, der mündlichen Überlieferung verdanken.
Geschichte ist keine Wissenschaft wie die Soziologie oder die Psychologie; wenn sie bei Trost ist, entwickelt sie keine Theorien. Aber auch sie lebt von neuen Moden, neuen Paradigmen. Fruchtbar würde sie, wenn sie aus der Spannung zwischen der eigenen Biografie in der Gegenwart und dem Zeitverhältnis der darzustellenden Täter und Opfer in früherer Zeit so etwas wie historisches Bewusstsein zu schaffen vermöchte. Dieses müsste uns, bei allem Dissens, auch vereinigen; so entstünde unsere Geschichte.
Geschichte musste sich immer mit der Warnung vor Mythen beschäftigen, die sich der persönlichen Erinnerung, der mündlichen Überlieferung verdanken. Ihr Glaube an die Wahrheit dessen, was in den Akten aufbewahrt ist, hat gute Gründe. Aber die in den Quellen aufbewahrten Mitteilungen, Beschlüsse und Begründungen erzwingen die Frage nach den Motiven, gerade da, wo deren Interpretation gegensätzliche Absichten gleich wahrscheinlich erscheinen lassen. Diese Motive aber würden das Handeln der beteiligten Personen erst ins richtige Licht versetzen. Das ist zirkulär, wie alle Textdeutung. Wäre das epische Erzählen der Dichter genug? Kaum. Denn die literarische Gestaltung dessen, was geschehen ist, wird die möglichen Tatsachenerkenntnisse vermehren und vermindern.
Der erfindende Schriftsteller eröffnet für seinen Leser oder Theaterzuschauer Wahrheitsabschattungen, indem er am Bild der Personen, das er gestaltet, gewisse mögliche Sachverhalte intuitiv verändert: er macht sie weniger wahrscheinlich, ja unglaublich, oder umgekehrt eröffnet er stimmige Zusammenhänge, die als glaubliche Interpretationen in den Vordergrund rücken. Das Porträt wird dadurch zur gleichen Zeit vertieft und verändert; die Verantwortung dessen, der auf solche Art Mythen und Imagines schafft, muss in Selbstkritik enden.
Ohne Unterstellungen und Annahmen geht es gar nicht; der Objektivismus der reinen Quellenwahrheit bliebe leer, gerade bei den Nuancen, auf die es wirklich ankommt. So kann nur jener Biograf sich dem, was der Fall war, annähern, der die Fallen der Vorurteile spüren lässt, und seine Hypothesen als solche zu Gesicht bringt: Da liegt der Grund dafür, dass jenes historische Schreiben, das sich den Erfindungen nicht gänzlich verschließt, vom Leser als wahrer empfunden wird, als ein Vorführen reiner Fakten, deren Narrative mit allen Mitteln camoufliert werden. Das ist kein Freipass für den, der sein Bild der Personen, die er beschreibt, willkürlich unscharf macht. Es ließe sich vermuten, dass Atmosphärisches wie in Fotografie und Film vor allem von solcher (Bild-)Bearbeitung bewirkt wird, die das Mythische wahr erscheinen lässt. Ein guter biografischer Arbeiter, so will es mir scheinen, umgeht dies, indem er das Unbekannte bewusst macht als Unbekanntes.
Jede Person bleibt ein Geheimnis, sich selbst noch mehr als denen, die sie kennen ... – die gute Biografie wird sich dabei für das Bewusstsein wehren, dass noch jeder Mensch sich unverstanden fühlte und dass auch jeder ein Recht darauf hat: denn niemand versteht einen anderen ganz. Auch nicht jenen anderen, der er selbst ist.
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