Max Frisch hat es in seinem »Gantenbein«-Roman so formuliert: »Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält.«
Der Satz von Max Frisch ist berühmt geworden. Er spielt auf unser Bedürfnis an, über Alternativen zu verfügen, über imaginierte Notausgänge, damit wir mit der eingebildeten oder tatsächlichen Enge unserer Wirklichkeit fertig werden. Unser Leben ist, so rücken wir uns Frischs Sentenz zurecht, nicht alles, was uns möglich wäre, wir könnten auch anders, etwa indem wir uns für unser Leben eine opulente Liebesgeschichte erfinden oder einen Kriminalroman, der wundersamerweise auch dann spannend wäre, wenn niemand ernsthaft zu Schaden käme. Und selbst wenn es letztlich eine leise, kleine, nach allen Seiten abgesicherte Geschichte würde, tut es gut, sie als Möglichkeit, als Entwurf mit sich zu tragen.
Frischs Satz bleibt auch dann spannend, wenn wir ihn nicht auf das Spiel mit den Möglichkeiten, sondern auf unsere Erinnerungen anwenden. Indem wir uns erinnern, definieren wir sowohl unsere Beziehung zur eigenen Vergangenheit wie auch – indirekt – zur eigenen Vergänglichkeit. Was uns in der Regel nicht klar ist: Wir neigen dazu, die erinnerten Ereignisse und Erlebnisse für Fakten zu halten, und wir lassen außer Acht, dass unser Erinnerungsvermögen eingeschränkt ist. Dieses Vermögen hängt nämlich nicht nur vom Zeitraum und vom allgemeinen Zustand unseres Gedächtnisses ab, sondern auch von zwei weiteren Faktoren: von unserer Einstellung zum jeweiligen Ereignis und von der kausalen Kette, in die wir dieses Ereignis hineinstellen. Wir erfinden uns eine Geschichte und halten sie für unser Leben, aber darüber hinaus verwandeln wir das, was wir für unser wirkliches Leben halten, in eine Geschichte – oft, ohne es zu bemerken. Wir erzählen von der Vergangenheit und holen sie so mithilfe der Sprache in die Gegenwart, formen sie und geben ihr einen neuen Sinn.
Das geschieht nicht nur im Alltag, sondern auch beim literarischen Erzählen. Autorinnen und Autoren suchen in ihrer Fantasie und auch in ihrer Vergangenheit – die Durchmischung ist so unvermeidlich wie unentbehrlich – nach erzählbaren Erlebnissen, sie gewichten die Fundstücke, gewähren dem einen viel Raum, erwähnen das andere so knapp wie unbedingt nötig, verschweigen das Dritte, weil es keinen Beitrag zur Sinnhaftigkeit des Ganzen leistet. Dann erstellen sie kausale Ketten: Sie suchen zwingende Verbindungen, elegante Übergänge, logische Schlussfolgerungen, überraschende Pointen, und bei alledem kümmern sie sich weniger darum, wie es damals tatsächlich war, sondern wie es sich ihnen jetzt erschließt.
Wer sich erinnert, verwandelt Wirklichkeit in Fiktion. Wer literarisch erzählt, verwandelt Fiktion in Wirklichkeit. Das ist nur auf den ersten Blick ein Gegensatz. Jede Geschichte, die wir erfinden, beruht auf einer Erinnerung. Jede Erinnerung wird durch das Erzählen zu einer Erfindung.
Das Geheimnis guten Erzählens besteht darin, das Erlebte, das Erinnerte und das Erfundene sprachlich so zu formen, dass die Leserinnen und Leser aus dieser deklarierten Fiktion zu ihrer erlebten Wirklichkeit finden. Wer fiktionale Literatur liest, sucht keine Informationen, sondern Erlebnisse, und zwar die eigenen, nicht jene des Autors, mag dieser noch so bekannt sein.
Ein guter Autor, eine gute Autorin kann das eigene Erlebnis, die eigene fiktionalisierte Erinnerung so erzählen, dass sie fortan zum Erlebnis eines oder einer jeden wird, der oder die sie liest. Es geht also nicht um die Frage, wie viel Autobiografisches im Buch steckt, sondern wie viel Autobiografisches das Buch beim Lesepublikum erschafft.
Wer schreibt, gibt den Menschen die Geschichten zurück, die sie irgendwann auf ihrem Lebensweg verloren haben. Das ist das eigentlich Autobiografische an der Literatur, und das ist das große Wunder, das in jeder gut erzählten Geschichte steckt.
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