Eine Begegnung der besonderen Art: Der Unternehmer und Nuclear Engineer Hans Widmer und die Ärztin und Demenzspezialistin Irene Bopp-Kistler diskutieren über das Bewusstsein, den Freien Willen und die Liebe bei Menschen mit Demenz.
Hans Widmer: In meiner Theorie, die ich im »Konsequenten Humanismus« vorlege, wird der Mensch ohne Bewusstsein geboren und baut dieses in Interaktion mit der Umgebung sukzessive auf. Der Alzheimer-Patient verliert es wieder, weil das Gehirn das Bewusstsein nicht mehr behausen kann. Die logische Folge aus meiner Sicht wäre, dass der Mensch, der sich entwickelt hat, wieder verschwindet.
Irene Bopp-Kistler: Man liest oft, dass sich ein Demenzkranker zurück zu einem Kind entwickle. Ich sage: Er bleibt ein erwachsener Mensch, aber es gibt vergleichbare Phasen mit der Stufe des Kindes. Mein Baby habe ich ja auch einmal geliebt, weil ich das Gefühl hatte, dass es eine Form von unbewusster Wahrnehmung gegenüber Menschen hat.
HW: Ich liebe das Baby aber nicht, weil ich willentlich anstrebe, es zu lieben, sondern dies geschieht instinktiv. Wer für es sorgt, den liebt das Baby zurück – diese Form der Interaktion entsteht sehr früh. Nur, und das mag sich ganz schrecklich anhören: Das erlebe ich beim Haustier auch, es ist ja nicht spezifisch menschlich, dass wir Sympathien austauschen.
IBK: Die Frage habe ich mir oft gestellt: Was unterscheidet ein Tier mit einer gewissen Form von Lebenswahrnehmung von einem Demenzerkrankten? Es gibt einen Unterschied, da bin ich mir sicher. Mir helfen Modellvorstellungen wie die von An-tónio Damásio, einem portugiesischen Neurowissenschaftler, der sich intensiv mit Bewusstseinszuständen bei verschiedenen Krankheiten befasst, unter anderem bei Demenz. Damásio spricht von verschiedenen Arten des Selbst. Das autobiografische Selbst ist gemäß seiner Theorie das höchste Selbst. Es entwickelt sich im Laufe des Lebens anhand von systematisierten Erinnerungen an Situationen und die am wenigsten veränderlichen charakteristischen Daten des eigenen Lebens. Daneben existiert das Kernselbst, das unsere ständige Interaktion mit Objekten steuert und sich durch die Wechselwirkung dauernd neu schafft.
HW: Wie die Regeln, nach denen wir uns verhalten.
IBK: Nicht nur verhalten, sondern auch, wie wir unsere Umwelt wahrnehmen. Was passiert mit mir, wenn ich im Wald einen schönen Vogel sehe? Jeder Mensch reagiert ganz anders – ein Teil wird bestimmt durch das Bewusstsein, ein anderer durch das Unterbewusstsein. Damásio nennt die Gehirnstrukturen, die sich unbewusst darum kümmern, dass der Zustand des Organismus stabil bleibt, das Protoselbst. Dieses kann nicht willentlich beeinflusst werden. Bei Menschen mit Demenz geht das autobiografische Selbst zunehmend verloren. Wenn der Demenzerkrankte am Morgen aufwacht, muss er sich jeden Tag neu finden. Er ist, er lebt im ständigen Jetzt, er hat noch einen kleinen, schmalen Zugang zur Vergangenheit, und er hat fast keinen Zugang zur Zukunft. Doch ich frage mich, ob der Demenzerkrankte nicht einen anderen, eventuell sogar stärkeren Zugang zum Unbewussten hat.
HW: Dieses interaktive Selbst, das sich zum Beispiel im Staunen äußert, das habe ich bei einem Tier noch nie beobachtet.
IBK: Ein Demenzkranker kann das. Diese Freude, die keinen Zweck hat, die ist einfach da.
HW: Und du glaubst, das Staunen ist nicht kausal durch den Anblick von etwas entstanden?
IBK: Das ist eine gute Frage. Ist es der Anblick oder ist es das Gefühl, dass ich trotz meiner Erkrankung geliebt werde? Das ist sehr schwer zu evaluieren. Bei einem Theaterspiel mit demenzerkrankten Menschen konnte ich das sehr schön beobachten: Die Patienten strahlten eine ungeheure Freude aus, ohne dass ein Regisseur ihnen Anweisungen erteilt hatte. Das hat mich zutiefst beeindruckt. Alles war im Jetzt, im Augenblick.
HW: Mit anderen Worten: Der Zeithorizont verschwindet, auch
das Gefühl von Rhythmus; die Zeitachse rückt auf den Punkt des Augenblicks zusammen.
IBK: Wir sprechen von einer Zeitgitter-Störung; der Patient sagt plötzlich: Ich möchte nach Hause zu meiner Mutter. Wenn wir ihn dann darauf hinweisen, dass seine Mutter schon lange gestorben sei, ist das für ihn ein schwerer Schock. Die Fragmente der Autobiografie rücken zusammen, und er möchte zurück ins Urvertrauen, zurück zu seiner Mutter.
HW: Die Sehnsüchte artikulieren sich also noch immer in den gleichen Empfindungen wie beim Gesunden, nur lassen sie sich nicht mehr mit seiner Vorstellung der Wirklichkeit verbinden.
IBK: Meine Hypothese ist: Bezüglich der Bewusstmachung des Unterbewusstseins – die wir teilweise durch Hypnose oder Meditation an die Oberfläche bringen können – ist der Demenzerkrankte quasi im Vorteil. Er holt Bilder an die Oberfläche, die uns möglicherweise nur in einer Therapie zugänglich werden.
HW: Ist die Demenz also nur eine große Verwirrung, ein Durcheinander?
IBK: Ein Patient hat kürzlich gesagt: »Ich bin in einem Durcheinandertal.«
HW: Dann hat er Friedrich Dürrenmatt gelesen.
IBK: Dieser Mann ist Architekt, sehr gebildet, und er hat Dürrenmatt gelesen. Diesen Ausdruck hat er als Metapher für seine eigene Kognition betrachtet. Und auf meinen Kommentar: »Sie haben Dürrenmatt gelesen«, meinte er ganz gelassen: »Schön, dass Sie den Roman auch kennen, aber ich bin weder dürr, noch matt.« Wenn man jedoch sein Gedächtnis testet, sind die Resultate katastrophal.
HW: Wie verhält es sich mit den großen Empfindungen, die uns durch das Leben tragen, zum Beispiel die Fähigkeit zu lieben. Sind Demenzerkrankte dafür noch empfänglich?
IBK: »Ich habe dich gern.« Diese Form der Liebe ist ungefiltert vorhanden. Einer meiner Patienten wurde vom Vater schwer gezüchtigt, er war Major, nachher hat er mit Waffen gehandelt, seine Frau und er haben kaum eine zärtliche Beziehung gelebt, trotz mehrerer Kinder. In der Demenz trat plötzlich eine enorme Zärtlichkeit auf, er hat alle umarmt, wurde so lieb zu jedem. In dieser Phase lebte er aus, was er vorher nie zeigen konnte. Später hat er sich in einem Pflegeheim für Demenzpatienten restlos in eine Patientin verliebt.
HW: Die Ausführungen zeigen mir, dass wir »Gesunden« gegenüber den Demenzerkrankten eine hohe Verantwortung haben, denn was wir ihnen liebend leisten, das kommt an. Das hat einen humanen Sinn, also sind wir aufgerufen, diesen Dienst zu leisten.
IBK: Ja, eindeutig.
HW: Wie steht es mit dem Freien Willen? Philosophisch gesehen ist es sehr wesentlich, dass wir den Freien Willen als die vollkommene Unbestimmtheit dessen akzeptieren, was vor mir liegt. Wenn es nicht unbestimmt wäre, bräuchten wir die Gefühle nicht, nach Lösungen zu suchen. Treffen Alzheimerpatienten noch Entscheidungen?
IBK: Das ist genau das, was sie nicht mehr können. Ab einem gewissen Stadium der Erkrankung gibt es keinen Freien Willen mehr. Sie sind mit Entscheidungsaussprüchen komplett überfordert und benötigen Sicherheiten. Deshalb halte ich es für sehr wichtig, mit diesen Menschen am Anfang der Krankheit offene Fragen wie Testament, Patientenverfügung etc. zu klären.
HW: Wie sagt man jemandem, der jetzt noch bei Bewusstsein ist, dass er das bald verlieren und aus der gemeinsamen Gegenwart kippen wird?
IBK: Der Verlust der zuvor gelebten Beziehungsfähigkeit ist vor allem für die engen Vertrauten sehr schwer zu ertragen, denn die Demenzerkrankten nehmen den Partner nicht mehr gleich empathisch wahr. Das, was Beziehungen ausmacht, das feine Spüren des anderen, das ist einfach nicht mehr vorhanden. Sie spüren auch nicht, warum der andere traurig über die Situation ist. Ganz viele Betroffene haben eine sogenannte Anosognosie (fehlende Krankheitseinsicht), sie nehmen ihre Defizite nicht so wahr wie wir. Positiv könnte man aber auch sagen: Das schützt sie. Die Frau dieses Patienten weiß, dass sie das, was ihn ausmacht, bald verliert, sie verfügt über das prospektive Denken, er jedoch nicht mehr, und das ist sehr schwer zu tragen.
HW: Sie verliert die gemeinsame Biografie. Konrad Lorenz hat eines Tages konstatiert, dass er seine Frau verloren habe. Der Ehemann von Iris Murdoch, der Historiker John Bayley, hat getan, was du empfiehlst, er hat sie nie aus seiner Liebe entlassen. Vielleicht hat er es auch für sich getan, dieses umfassende Lieben, und Iris hat es, so glaube ich, erwidert.
IBK: Das Leben ist nicht mehr so, wie es war, und es wird auch nicht mehr so sein. Hierbei helfen die Gedanken von Pauline Boss enorm, die sagt, der Partner ist zwar ein anderer, es gibt aber Eigenschaften, die nach wie vor liebenswert sind. Für alle anderen Ebenen muss sich der gesunde Partner ein neues Beziehungsnetz aufbauen.
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Bildlegende: Irene Bopp-Kistler im Gespräch mit Hans Widmer. © Saskia Nobir
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