Der St. Galler Manuel Stahlberger, immer wieder als »vielleicht bester Schweizer Songtexter« bezeichnet, singt auf seinem neusten Album die Zeile »Wiissi Stube, schwarzi Kleider, also zämezellt Grau«. Dabei bedient er sich gekonnt bei den Stereotypen der Farbe Grau – und erzählt ganz auf seine eigene Weise die Geschichte eines Songs weiter, von einem ebenfalls immer wieder als »vielleicht bester Schweizer Songtexter« bezeichneten Berner Sänger: Kuno Lauener von Züri West.
Wie der Autor Severin Perrig in seinem Essayband »Smaragdgrau – Zehn literarische Ausflüge in eine spezielle Farbe« schreibt, wurde bereits in der Antike und etwa bei den Wandmalereien in Pompeji »nach einer passenden grauen Untermalung gesucht, um eine glänzende Wirkung für rötliche Farbpigmente zu erzielen«. Auf einem grauen Hintergrund leuchten also die Farbe der Liebe und der Revolution, aber durchaus auch andere Farben besonders intensiv.
Im Sommer 1994 kam man in der Schweiz um den Song nicht herum: Auf allen Radiostationen sang Kuno Lauener mehrmals täglich »Ich schänke dir mis Härz« und unzählige Jugendliche flüsterten es ihren Angebetenen ins Ohr, grosszügig ignorierend, dass die Figur ihr Herz in dem Züri-West-Song einer Prostituierten anbietet.
Das Album, auf dem das Lied zu hören ist, heisst gleich wie die Band, und während auf der Hitsingle in der Bar noch ganz brav mit Worten geflirtet wird, eröffnet das Album gleich mit einem »Vorspiel«, um nahtlos in den Song »Traffik« überzugehen, wo es so richtig bunt zur Sache geht:
»E Maa u e Frou lige zäme zmitts im Chleefäud
U sie lüpft ihre Rock u är zieht sech d’Hose abe
D’sunne schiint u es isch schön u warm, nume dr See fäut
Aber sie wei gar nid ga bade […]
Sie schüttlet ihri Haar u faat liislig afa schtöhne […]
Är chnöilet jitz so haub u sie isch immer no am Rite
U jitz wird's ziemli wiud«
Eine Überraschung oder – für viele (heutige) HörerInnen vermutlich unverständlich – eine Wendung der Geschichte kommt in der nächsten Zeile:
»U vo obe über ds Biud flügen e Huufe farbigi Ballön
U es paar Viicher wo chöi rede finge
Irgend sone nöie Toyota no schön«
War man damals ein Fünfzehnjähriger oder ein Zwanzigjähriger, wie es 1994 Manuel Stahlberger war, und bezog sich »S erscht Mol« wie auf dem gleichnamigen Song auf Stahlbergers neustem Album nicht auf den ersten Besuch eines Fussballmatchs als »Zeitklässler«, sondern auf andere Träume eines Jugendlichen, so hoffte man, die Eltern gingen am Samstagabend spätestens nach dem »Sportpanorama« ins Bett. Zappte man vom Schweizer Fernsehen auf Sat1, war dort das Gezeigte auf dem Bildschirm mindestens so heiss wie die Röhre, es liefen Erotikfilme. Denn damals gab es weder Internet noch Smartphones, und die Filme waren nicht leicht verfügbar. Und wenn es dann eben auf dem Bildschirm »ziemlich wild« wurde, flogen wie aus dem Nichts von oben herunter die farbigen Ballone des Sat1-Logos, um den Werbeblock anzukündigen, wo sprechende Tiere aus dem Urwald die neusten Fahrzeuge von Toyota – alle in roter Farbe – ankündigten.
Sex, Sonne, Kleefeld, Jugend, Urwald, Werbung, Auto – das ist und steht für das pralle Leben, Abenteuer und Freiheit und leuchtet umso mehr im Kontrast.
Sechsundzwanzig Jahre später, im Jahr 2020, ist im Lied »Jetzt wohned`s sälber i so Hüser« von Manuel Stahlberger und Bit-Tuner eine Frau auch geritten (»Si ziet d’Riitstifel ab«). Und sie geht »baden«: »Si gaht is Bad drüviertl Stund und luegt was im Fernseh chunt«. Sie gehört ganz offensichtlich nichtzur Generation Z und überbrückt die Zeit bis zu ihrem nächsten Termin nicht am silbrigen MacBook oder Smartphone, sondern mit Fernsehschauen: »Am Namittag oder Abig hät si Verwaltigsrat.« Sie wohnt in einem Haus »umgäh vo Teich und Grünfläche«, geschützt durch eine Mauer und einer Kamera an der Tür. Und auch der Ausblick auf den See fehlt bei ihr und in diesem Lied nicht.
Und da fliegt ihre Vergangenheit auf unerwartete Weise in ihr erfolgreiches und geordnetes Leben: »Si gseht en Fründ in ere Werbig«, »si wäred fascht es Paar gsi do, wos öppe füfzähni gsi sind«. Er sitzt in einem riesigen Wohnzimmer und die Situation ähnelt der ihren: »Wiissi Stube, schwarzi Kleider, also zämezellt Grau.«
Schwarz und Weiss vermischt gibt zwar Grau. Doch bereits der Schriftsteller und Farbtheoretiker Goethe war der Meinung, dass die Grundfarben Rot, Blau und Gelb mit den aus ihnen gewonnenen Komplementärfarben Grün, Orange und Violett vermischt qualitativ mehr als das »niederträchtige Grau« aus reinem Schwarz und Weiß ergeben. Der Künstler Paul Cézanne schrieb zur Farbe gar in einem Brief an Camille Pissarro »es allein herrscht in der Natur, aber es ist eine furchtbar schwere Sache, das richtig hinzukriegen.« Dessen ist sich Manuel Stahlberger natürlich bewusst, der auch Comiczeichner ist. Er spielt in seinem Songtext gekonnt mit der Schwarz-Weiss-Malerei, mit Stereotypen und Vorurteilen. Seine oben geschilderte Szenerie ähnelt einer Beschreibung in Severin Perrigs Buch: »Die Möbel darin sind alle in dezentem Stahl, um ja keine andere Farbe zu konkurrenzieren. Eine solche Innenausstattung redet – vom samtenen Sofa und anthrazitfarbenen Fernsehbildschirm bis zur Energiesparlampe mit ihrem kühlen Licht – von Bescheidenheit und selbstsicherer Zufriedenheit, jeden Besucher jederzeit repräsentativ empfangen zu können.« Das Lied suggeriert zudem auch noch andere Eigenschaften, die mit Grau in Zusammenhang gebracht werden: Langeweile, Sachlichkeit, Fantasielosigkeit.
Interessanterweise wird bei Stahlberger die Verwaltungsrätin mit teurem Wohnsitz zur grauen Maus stilisiert und nicht Vorbild einer Frau, die es in der Wirtschaft bis ganz oben geschafft hat. Vielleicht weil das »von einer allgemeinen Angst vor der Langeweile des Alltags [redet], wie wir sie noch heutzutage gerne dem Verwaltungs- und Geschäftsbetrieb in den Bürotürmen nachsagen« (Perrig)? Oder weil sie nicht mehr 27-jährig und/oder ein Mann ist, wie der Unternehmer und Milliardär Christian Grey aus »Fifty Shades of Grey«: Erfolgreich, mit »wahnsinnig grauen Augen«, »sexy Raubtierblick«, der Dinge sagt wie: »Ich hasse Kondome.« Wohingegen über die Figur aus Stahlbergers Song und ihresgleichen gesungen wird: »Jetzt händs vom Riite Siitestäche und wänd nüme usbräche.«
In Stahlbergers Lied ist es nicht der neoliberale Milliardär, der im Kontrast zum grauen Leben der Frau aus der oberen Mittelschicht steht, sondern dieser ehemalige Freund, der inzwischen Schauspieler ist. Und »als Schauspieler isch mer ja Künschtler, dänn isch das mit em Geld ja gliich«. Und insbesondere ist es die Erinnerung an ihre wilde Jugend, die aufleuchtet: Sie und der Freund sind »amel zäme iibroche i leeri Villene mit vernaglete Türe, händ tüüfi Gspröch gführt und händs total gspürt.« Sie würde es gern wieder mal spüren, doch so sehr dann doch auch wieder nicht, dass sie die Situation ändern möchte. Während sie diese scharf analysiert, irritiert sie umso mehr das, was auf dem Bildschirm in der Werbung passiert: »Um wa gaht’s jetzt da scho wieder? Si chunt immer nonig drus«. Und während im Lied von Züri West der Werbeblock mit Ballons und Tieren den Höhepunkt eines Filmes unterbricht, ist es bei Stahlberger der Zeitpunkt, als die Frau meint, in der Werbung mit ihrem alten Freund passiere nichts mehr: »Da fangt er plötzlich a tanze und dä Bär a steppe und sini Frau riist ihri Steckfrisur uf und luuter Lüt gumped is Bild, ali sind farbig ahgleit und d’Chind mit Ballön springed umenand wie wild.«
Da lässt Stahlberger die bunte Welt der Werbung gleich mehrfach in die graue Stube seines Liedes fliegen und besonders intensiv aufleuchten. Hört man Stahlbergers Text »Jetzt wohned’s sälber i so Hüser« als grauen Hintergrund von Kuno Laueners »Traffik«, so tut es letzterer ebenso. Literarisch sind sie beide, und qualitativ so könnte man sagen, wie ein Grau, gemischt aus einer Grundfarbe mit ihrer Komplementärfarbe.
Nachtrag I:
Auf dem gleichen Album von Züri West aus dem Jahr 1994 gibt es bereits eine Fortsetzungsgeschichte, die über die zwei Songs »Hanspeter« und das darauf folgende »Entwickligsschtück« hinweg vom Schicksal erzählt, das die Jahre fern der Twentys mit sich bringen können. Und obwohl Hanspeter im ersten Song beschrieben wird als »graui Erschiinig«, so ist das offensichtlich nicht im Sinne einer grauen Maus, sondern eher als »graue Eminenz« gemeint, denn weiter heisst es: »en Maa, wien es Erdbebe«, »Er isch de King« – bei den Frauen, versteht sich. Die anderen Männer haben das Nachsehen, er fährt ihnen zusammen mit den Frauen im Auto davon. Dann wendet sich die Geschichte und im »Entwickligsschtück« hat Hanspeter eine Frau und eine Tochter, die auf dem Sonntagsspaziergang »gränned und schiesst de Nuggi furt«. Er arbeitet ausgerechnet im Laden seines Schwagers, den er früher verachtete und nicht mal »beachtet« hatte und »jetzt isch es umgekehrt«: »De Rebell hinter em Gschtell, Hanspeter, jetzt bisch en nüm meh.«
Nachtrag 2:
In der SRF-Radiosendung »Ich will keine Songs über den Virus machen« mit Manuel Stahlberger und Bit-Tuner vom 22.10.2020 wurde Stahlberger gefragt, wie er zu seinen Texten komme. Dieser antwortete, es sei manchmal ein sehr »profaner Anlass«, wie, dass »Verwaltungsrat« sich auf »spat« (spät) reime. Und er fände es noch lustig, dass die Frau im Song reiten gehe und Stiefel habe. Als der Moderator fragt, ob da ein Fetisch angesprochen sei, sagt Stahlberger lachend: »Das isch so irgendwelche Insider-Liebhaberei natürlich« (ab 32:00). Via Facebook fragte ich Manuel Stahlberger, ob man das Lied als Echo auf Züri Wests »Traffik« hören könne. Darauf antwortete er mit »Kann schon sein …« und in einer zweiten Antwort postete er den Link zu einem Züri-West-Konzert in St. Gallen, wo die Berner Band den Song »Abghenkt« von Stahlberger coverte.
Manuel Stahlberger & Bit-Tuner: »I däre Show«, Irascible Music, 2020
Züri West: »Züri West«, Weltrekords at Sound Service, 1994
Severin Perrig: »Smaragdgrau – Zehn literarische Ausflüge in eine spezielle Farbe«, rüffer & rub Sachbuchverlag, Zürich 2020
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