In einem seiner letzten Interviews sagte der französische Philosoph Michel Foucault (1926–1984): »Kunst [ist] in unserer Gesellschaft zu etwas geworden, das mit Objekten zu tun hat und nicht mehr mit Menschen oder mit dem Leben. Kunst ist ein Spezialgebiet einiger Experten, die man Künstler nennt. Aber warum sollte nicht jeder aus seinem Leben ein Kunstwerk machen können? Warum ist diese Lampe oder dieses Haus denn ein Kunstwerk und mein Leben nicht?«
Aus Foucaults Worten hallt ein fast utopisches Verlangen wider. Sein Wunsch war, dass unsere spätmoderne Kultur von einer Form von Lebenskunst inspiriert werden würde, die Menschen dazu anregt, ihrem eigenen Leben in bestimmter Weise und in bestimmter Richtung Form zu geben. Aus seinen Worten spricht auch Enttäuschung und Besorgnis. Obwohl wir angeblich über uns selbst bestimmen, werden wir doch von allen Seiten gegängelt.
Foucault las in den klassischen antiken Schriften von Platon, Epikur, Seneca und Plutarch, dass eine bestimmte (männliche) Elite Griechenlands und Roms nicht länger Sklave ihrer Bedürfnisse oder Leidenschaften und der Willkür des Staates oder eines anderen Menschen sein wollte. Sie wollte frei und sowohl körperlich als auch geistig unabhängig sein, und sie wollte sich leidenschaftlich um das Gelingen ihres Lebens bemühen. Ein Bemühen, das sie techne tou biou, ars vitae oder Lebenskunst nannten.
Bis vor einigen Jahren ging es in der landläufigen Ethik fast ausschließlich um Sozialmoral. Und wenn wir über Normen und Werte sprachen, dachten wir dabei in aller Regel an die Sorge für andere, an soziale Verpflichtungen oder Verantwortung. Aber der Fokus hat sich verschoben. Foucaults Appell, das Leben als Kunstwerk zu betrachten, hat inzwischen einen Widerhall gefunden. Damit gewinnt auch eine Reihe neuer Auffassungen schnell an Terrain: Dass Selbstachtung die Grundlage der Moral bildet, dass Selbstfürsorge die eigene Lebensqualität mitbestimmt und Lebenskunst eine notwendige Bedingung jeder guten Bürgerschaft ist.
»Unsere Sehnsucht nach einem authentischen, eigenen Lebensstil in krassem Widerspruch zum Lifestyle-Hype des Marktes.«
Die Rückkehr der Lebenskunst ist eng mit einer neuen Art von Unsicherheit verbunden, die unser heutiges Leben in der späten Moderne kennzeichnet. Diese Unsicherheit beruht auf unserer unklaren Antwort auf die Frage nach dem guten Leben. Schon von jeher kämpfen die Menschen mit denselben Problemen, mit Leiden, Schicksal, Unheil und Tod. Halt boten traditionsgemäß die Lebensanschauungen mit ihren allseits bekannten Überlieferungen und Vorschriften. Doch der moderne antipaternalistische Zeitgeist erkennt keine moralischen und weltanschaulichen Autoritäten mehr an. Fast ein jeder kultiviert die Norm der Autonomie und will dem eigenen Leben einen Sinn geben, ohne dass er von oben herab verordnet worden wäre. Was sich kürzlich zeigte, als einer meiner Studenten während einer Vorlesung treffend bemerkte »Ich weiß nicht, was ich will, aber ich weiß, dass Sie das nicht für mich entscheiden dürfen.« Damit scheint der Weg für eine stilvolle Gestaltung des eigenen Lebens auf der Grundlage selbst gewählter Werte und Wertstrukturen frei zu sein. Doch gerade bei Letzterem drückt nun der Schuh.
Zunächst einmal steht unsere Sehnsucht nach einem authentischen, eigenen Lebensstil in krassem Widerspruch zum Lifestyle-Hype des Marktes. Fast alle Medien des spätkapitalistisch-en Marktes vermitteln dem modernen Menschen die »richtigen« Codes und den »guten« Geschmack bis in alle Bereiche des Alltags: Wohnungseinrichtung,Genuss(mittel), Freizeitgestaltung, Körperkultur (Hygiene, Ernährung, Gesundheit und Schönheit), Altern, Sexualität und sogar Tod. Das tägliche Leben ist bis hin zum Sterben zur Zielscheibe einer Konsumkultur geworden. Harmonie, Genuss und ein angenehmes Lebensende bilden den normativen Horizont, vor dem der Markt in endlosen Variationen desselben Themas sein »Rundum-Sorglos-Paket« feilbietet.
Unsere viel gepriesene Entscheidungsfreiheit steht zudem noch auf eine zweite, eher prinzipielle Weise zur Disposition. Der englische Soziologe Zygmunt Bauman (*1925) hält die heutige postmoderne Entscheidungsfreiheit für ebenso spannend wie nervenaufreibend: »Ständig sieht man sich irgendeinem Risiko ausgesetzt. Wenn man seine Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Möglichkeit richtet und eine Entscheidung trifft, kann man nie sicher sein, ob man zwischenzeitlich nicht gerade andere Optionen, die vielleicht noch viel attraktiver, interessanter, besser und profitabler gewesen wären, verpasst. Ganz gleich welche Wahl man trifft, wird die Freude zu wählen doch immer von dem Wissen gedämpft, dass es viele andere Wahlmöglichkeiten gegeben hätte, die man links liegen gelassen hat. Dafür zahlt man, vor allem im psychologischen Sinn, einen hohen Preis.«
Ob eine Entscheidung gut oder schlecht ist, hängt vom angelegten Maßstab ab. Während sich die antiken Philosophen in ihren individuellen Entscheidungen noch auf universell geltende Regeln, auf so etwas wie die »Natur« oder einen mutmaßlich absoluten Maßstab berufen konnten, erkennen wir heute hinsichtlich der Ausgestaltung unseres persönlichen Lebens keine Autoritäten mehr an. Der beständige Mensch der (vor-)modernen Zeit setzte sich für Gott oder Vaterland, für seine Familie oder die gute Sache ein und leitete gerade daraus seine Identität ab. Doch er ist heute dem, was Richard Sennett den »flexiblen Menschen« nennt, gewichen. Der flexible Mensch steht für nichts mehr ein: Er engagiert sich nur für den Augenblick.
Kann eine zeitgemäße Lebenskunst hier einen Ausweg bieten? Michel Foucault hat uns gelehrt, das Problem der Lebenskunst umsichtig anzugehen. Eiyne spätmoderne Lebenskunst ist weit vom glossy lifestyle entfernt. Genauso wenig darf Lebenskunst mit Etikette und Umgangsformen verwechselt werden. Wir sind eher auf der Suche nach einem eigenen, stilvollen Umgang mit den vorherrschenden Codes und Verhaltensregeln. Lebenskunst ist auch nicht das Gleiche wie die Kunst des Genießens. Zwar sind Genuss und Glück im Leben moderner Menschen gewiss wichtige Werte. Doch jeder weiß, dass es daneben auch andere wichtige Werte wie Solidarität und Freiheit gibt, und ein glückliches Leben mehr als eine Reihe angenehmer Erfahrungen ist. Und schließlich ist Lebenskunst weder ein psychologischer Trick noch ein Kunststück, das wir bei einem Guru, in einem Kurs oder aus einem Lehrbuch lernen, damit alles wie am sprichwörtlich bekannten Schnürchen verläuft.
Den Ausgangspunkt der modernen Lebenskunst bildet die Norm, dass der Einzelne für sein Schicksal selbst Verantwortung übernimmt. Es gibt eine Reihe verräterischer Verhaltensweisen, mit denen wir uns immer wieder als Opfer darstellen und uns unserer Verantwortung für den Verlauf unseres Lebens entziehen, wie etwa Gleichgültigkeit (»Nach mir die Sintflut«), Opportunismus (»Erst mal abwarten, wie es sich entwickelt«), Widerspenstigkeit, Unentschlossenheit und Starrsinn. Eine gewisse Hartnäckigkeit im lebenslangen Lernen ist dagegen das Markenzeichen der aktuellen Lebenskunst.
Lebenskunst bezieht sich auf eine Haltung, die von zwei Charakteren geprägt ist: dem bewussten Lernen und der Übung in Selbstexpression. Eine bewusste Lebensführung verkörpert die theoretische Seite der Lebenskunst. Das klingt zunächst ziemlich banal, bis man sich vor Augen führt, welche Ansichten über bewusste Lebensführung in alternativen Kreisen kursieren. Unter bewusster Lebensführung ist nicht das zu verstehen, was Hunderte von spirituellen Zentren ihren arglosen Klientel in zahllosen Broschüren unermüdlich vorgaukeln, eine meditative Form der Selbstbesinnung, durch die man zu tieferen inneren Wahrheiten gelangen könne. Es ist ein schwerwiegendes Missverständnis zu glauben, bewusste Lebensführung habe etwas mit einem außergewöhnlichen Bewusstseinszustand zu tun, der es uns erlauben würde, in tiefere Schichten unseres Ich vorzudringen, um von dort aus in unserem Alltagsleben umso höhere Sphären erreichen zu können. Bewusst zu leben bedeutet nichts anderes, als seine konkreten individuellen und allgemeinen Lebensumstände regelmäßig zu reflektieren.
»Es ist ein schwerwiegendes Missverständnis zu glauben, bewusste Lebensführung habe etwas mit einem außergewöhnlichen Bewusstseinszustand zu tun.«
Die persönliche Reflexion betrifft sowohl Selbsterkenntnis als auch Einsicht in die eigenen Lebensumstände, Fähigkeiten, Werte, Ziele und Mittel. Auch die Einbettung in die Lebenswelt ist wichtig: Selbsterkenntnis beinhaltet nicht nur einen realistischen Blick auf die eigenen kognitiven Fähigkeiten, sondern auch auf den eigenen Charakter, die eigenen (Un-)Tugenden und die eigenen Stimmungen. Wir sind nicht allmächtig, wir können nicht alles überblicken, und wir täuschen uns immer wieder in uns selbst: darin, wer wir sind, was wir können, und auch darin, was wir wirklich wollen. Um die richtigen Entscheidungen treffen zu können, müssen wir regelmäßig Rat suchen. Daher ist die wichtigste Wahl unseres Lebens wohl die der richtigen Freunde und damit der richtigen persönlichen Berater. »Ich würde mein Leben ja gerne einem anderen überlassen, aber wem?«, fragte der Renaissancephilosoph Montaigne und brachte dieses Problem damit treffend auf den Punkt.
Wann sagen wir, ein Leben sei ein Kunstwerk? Sicherlich nicht, wenn wir ein einziges Ziel erreicht haben, eine einzige gelungene Beziehung geführt haben oder unsere Aktien gestiegen sind. Lebenskunst ist eine Kompositionslehre. Ausgestattet mit einem eigenen Set von Werten, geht es dabei um die Komposition eines Ganzen. Das Kriterium für das Gelingen des Kunstwerks liegt darin, als Person seine eigene Form zu finden. Das schöne Leben ist ein Leben in spannungsvoller Harmonie. Ein solches Leben ist ein Kunstwerk!
Übersetzung aus dem Niederländischen von Bärbel Jänicke
Verstehen Sie Ihren Buchtitel »Wider die Gleichgültigkeit« als eine Provokation? Glauben Sie, dass unsere Kultur dieser Gefahr unterliegt resp. bereits der Gleichgültigkeit verfallen ist?
JD: Nein, ich wollte mit dem Titel nicht provozieren. Man sollte ihn eher als Herausforderung und auch ein wenig als Warnung verstehen. Ich bin gewiss kein Kulturpessimist, aber man muss schon total blind sein, um nicht zu erkennen, dass wir in unserer modernen Gesellschaft viele persönliche und soziale Probleme haben. Offenbar geht man davon aus, jeder von uns besitze eine gewaltige Freiheit, diese Probleme selbst lösen zu können. Diese Freiheit muss sich aber jeder von uns erst selbst erkämpfen. Sonst droht Gleichgültigkeit, und ja, sie begegnet uns immer häufiger.
Sie gehen in Ihrem Buch auch auf klassische antike Schriften zur Lebenskunst ein. Damals musste es doch für die Elite einfach gewesen sein, diese Kunst zu leben – fern von motorisierten Bewegungsmitteln und Technologie. Unsere Welt sieht ganz anders aus: viel hektischer, viel mehr Einflüsse und Zwänge von außen. Was können uns die griechischen Philosophen heute noch lehren?
JD: Zunächst ist es klar, dass wir uns, wie Sie richtig sagen, in einer anderen Situation befinden, denn wir leben ja in einer spätmodernen Gesellschaft. Also kann man die antike Ethik nicht einfach wieder aufnehmen. Doch man kann bestimmte Lebenshaltungen aus der antiken Tradition in einem gewissem Sinne modifizieren. Es existiert ein enormer Schatz an Erkenntnissen und Beispielen, ob nun in Epikurs Glücksethik, in Aristoteles’ Tugendethik oder in der Stoa mit ihren Gedanken über Askese, Autonomie und Achtsamkeit.
Was sind die ersten Schritte zu einer bewussten Lebenskunst? Gibt es ein »Training«, um Lebenskunst zu lernen und zu verbessern?
JD: Im Allgemeinen bin ich etwas auf der Hut, von Schritten zu reden. Das hört sich für mich zu sehr nach Mode und einer Sprache der modernen Machbarkeit an, aber manchmal gibt es in Lebensfragen keine einfachen Lösungen. Ich würde also lieber von einer Art zusammenhängender Bildung sprechen, aus der eine eigene Lebenshaltung hervorgeht. Der erste Schritt dazu wäre die Einsicht, sich für seine eigene Lebensgestaltung verantwortlich zu fühlen. Irgendwo gibt es einen inneren Anfang, und erst danach kommen Reflexionen, Übungen und Wille.
Ist es im Alter durch die gesammelte Lebenserfahrung einfacher, Lebenskunst zu leben?
JD: Älter werden ist eine komplexe Erfahrung, mit vielen Gewinnen und Verlusten. Man bekommt ein anderes Verhältnis zur Zeit, mit vielen Erinnerungen und weniger großen Erwartungen. Eine aktive Lebenseinstellung ist weiterhin notwendig, aber es entsteht auch eine gewisse Gelassenheit. Nein, ich glaube nicht, dass man sagen kann, es werde einfacher. Vieles ist auch Zufall: Bleibt man selbst oder bleiben die Menschen, die man liebt, gesund? Findet man im Alter einen neuen Weg? Gelingt es einem, gelassen zu sein?
Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit dem Thema, wie nah sind Sie selbst am Ideal der Lebenskunst?
JD: Wissen Sie, ich habe immer ein wenig Angst vor dieser Frage. Aber ich verstehe sie natürlich. Wenn ich Ihnen sage, dass ich kein Mensch bin, dem das Leben leichtfällt, werden Sie weiter fragen, warum das so ist. Schließlich bin ich doch ein Philosoph der Lebenskunst. Man kann aber viel über Lebenskunst wissen und gerade deshalb kein leichtes Leben haben. Lesen Sie mein Buch, danach reden wir weiter.
Josef Dohmen, 1949, ist Professor für Philosophische und Praktische Ethik an der Universiteit voor Humanistiek in Utrecht, Niederlande. Er studierte Philosophie in Utrecht, Berlin und Leuven (Belgien). Sein Schwerpunkt liegt auf den Themen Lebenskunst, Moralerziehung und Alter. Dohmen schrieb diverse Artikel und Bücher zu diesen Themen sowie über Montaigne, Nietzsche und Foucault.
Bildnachweis: © Josef Dohmen
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