In der Form eines kleinen Essays fragt die Autorin von »Meine Schwiegermutter, der Mondmann und ich«, Brigitte Helbling, nach den Hinterlassenschaften naher Menschen. Papiere auf dem Dachboden, Papiere im Keller, ein geteiltes Erbe, das auch in der literarischen Verarbeitung ein gemeinsames bleibt. Vom Umgang damit, und vom Wunsch loszulassen.
Natürlich hätte sich allein aus der Geschichte in dem schwarzen Notizbuch meiner Schwiegermutter auch ein Roman machen lassen. Oder doch eine Novelle. Mit Figuren, die meiner Schwiegermutter, ihrem Verehrer H. und dem Dritten im Bund, Heinz B., täuschend ähnlich sahen. Mit Mutmaßungen zum Denken und Fühlen der drei und Ausschmückungen zu ihrer Reise durch Kleinasien, und danach die Zeit in Zürich: Die eine am Zweifeln, der Zweite am Leiden, der Dritte – nun, was war eigentlich mit ihm, dem »Naturmenschen«, in dessen Gesellschaft meine junge Schwiegermutter sich so wohlzufühlen schien?
Papierhalden
Meine Schwiegermutter war verstorben. Unter den vielen Papieren, die sich beim Räumen der Wohnung fanden, lag das schwarze Notizbuch, tagebuchartige Aufzeichnungen zu einem Liebeswerben, das ihr, zumindest anfangs, unheimlich war. Sie hatte es mit 22 Jahren geschrieben, einem Alter, in dem ich sie nicht kannte, gar nicht kennen konnte. Ihren Sohn, den ich später heiratete, nenne ich in meinem Buch den »Mondmann«. Eine von vielen Entscheidungen, die im Laufe des Schreibens fielen, ohne dass ich hinterher genau zu sagen wüsste, warum.
Mit dem Mond hat der Mondmann nicht allzu viel zu tun. Trotzdem schien der Name zu passen. (Er passt noch immer. Für den Mondmann.)
Elterliche Nachlässe beschäftigen viele meiner Freundinnen und Freunde. Die Tagebücher des Vaters, die Aufzeichnungen der Mutter. Unsere Elterngeneration stammt aus einer Zeit, in der private und weniger private Dinge noch vorwiegend auf Papier festgehalten wurden. Das geschah handschriftlich, seltener mit Schreibmaschine. Was tun mit all den Ordnern, Büchern, Schachteln mit Zetteln? Wegwerfen geht nicht, zumindest nicht gleich. Selbst in Fällen, wo Hinterbliebene den Niederschriften ihrer Eltern skeptisch gegenüberstanden, und das passiert öfter, als ich vermutet hätte, führte der Weg fürs Erste ins Aufbewahren, in den Keller oder auf den Dachboden.
Wir reden hier von Papierhalden, sentimental oder anders besetzt. Aus den meisten wird kein literarisches Unterfangen, soll auch gar keins werden. Schon das Lesen des Nachgelassenen fällt den Hinterbliebenen aus vielerlei Gründen oft schwer. Die wenigsten werfen, wie eine Freundin und ihr Bruder es taten, die Tagebücher der Mutter ungelesen weg. Ob ihr das später nicht leidgetan hätte, fragte ich diese Freundin, und sie meinte, gar nicht, die Mutter habe zu Lebzeiten einige sehr gute Texte über ihr Wirken veröffentlicht (sie war politische Aktivistin und Dolmetscherin, auf Fotos immer die Frau im roten Kleid inmitten von Männern in dunkeln Anzügen), sodass die Tochter nicht den Eindruck hatte, ihr sei von diesem Leben irgendetwas entgangen.
Bild 1 | Links: Die studentische Reisegesellschaft im Sommer davor auf abenteuerlicher Fahrt mit Professor Marcel Beck durch Kleinasien. Die Schwiegermutter steht unten lächelnd mit dunklem Pullover, heller Kette und verschränkten Armen. Zwei weiter rechts sitzt H. | Rechts: Auszug aus dem schwarzen Notizbuch, in dem die Schwiegermutter Ende 1953 in Zürich schreibend versuchte, »Klarheit« über die eigenen Wünsche und Gefühle zu gewinnen.
Vorbilder, Begleittexte
Das schwarze Notizbuch, das wir unter den Papieren meiner Schwiegermutter fanden, war eine Überraschung. Die Chronistin darin schreibt ernsthaft und offen über ihr »Dilemma«, zeigt dabei aber durchaus einen literarischen Mutwillen: Der Wunsch, »Klarheit« zu finden, mischt sich mit einer beinah diebischen Freude an dem Roman, zu dem ihr Leben gerade geworden ist. Reizvoll erschien mir der Gedanke, diese Stimme zu erhalten, ein Buch mit statt über diese 22-Jährige zu schreiben – auch wenn meine Schwiegermutter natürlich kein Mitspracherecht haben würde in der Frage, wie ihre Aufzeichnung gekürzt, sortiert, präsentiert würden. Sie war nun einmal nicht mehr da. Ihr Sohn, ihre Töchter aber schon. Und ihre erwachsenen Enkelinnen. Gespräche mit ihnen flossen in mein Buch mit ein.
Ich orientierte mich dabei an essayistischen Verfahren, die ich bei Maggie Nelson (»Die Argonauten«), Olivia Laing (»Crudo«), Max Frisch (»Montauk«) gefunden hatte. Kurze Abschnitte, Zwischentitel, keine Angst vor Sprüngen. Auch Erfindungen (»Crudo«!) sind erlaubt. »Alles ist erlaubt«, schreibt Michael Hamburger in seinem »Essay über den Essay«, für ihn ein »Spiel, das seine eigenen Regeln schafft«. Was während des Schreibens anfällt, kann selbst zum Teil des Erzählens werden, mit Fragen, die sich sonst die Literaturwissenschaft stellt. Beispiel: »Die Argonauten«. Als Maggie Nelson ihrem Lebensgefährten Harry Dodge eine erste Fassung ihres Buches zu lesen gibt, reagiert dieser ungehalten. Sorgfältig – »großzügig«, schreibt Nelson – setzt er ihr auseinander, inwiefern ihre Bilder den seinen nicht entsprechen. Der Bericht betrifft sie beide, warum also sollte er (eine Frage, die Nelson beschäftigt) im Prozess nicht mitreden dürfen? Selbst Max Frisch, der in »Montauk« sein Leben mit Frauen durchpflügt, als gelte es alles, selbst das Peinlichste ans Licht zu tragen, deutet in seinem Aufbewahren eine Praxis der Zurückhaltung an. »Dies ist ein aufrichtiges Buch, Leser«, zitiert er Montaigne und fragt gleich darauf: »Und was verschweigt es, und warum?«
Bild 2 | Links: Auszug aus dem »Lebensbericht« des Vorfahrs, begonnen in »Schännis an der Linth«, 1812. | Rechts: Hans Conrad Escher um 1820. Kupferstich von A. Bouvier (1836) nach der Zeichnung von Martin Esslinger.
Balance und Befreiung
Der Vorfahr in meinem Buch, Hans Conrad Escher von der Linth, hatte nicht vor, in seinem »Lebensbericht« etwas zurückzuhalten, als er sich in »Schännis, 1812« eines Abends hinsetzte, um sein Leben für die Kinder aufzuzeichnen. Er kam aus einer anderen Tagebuchtradition, der »empfindsamen« von Lavater und Co.; von ihr hatte er sich entschieden abgewandt, es blieb aber doch die Vorstellung, dass gerade das Scheitern die Nachwelt unterhält. Auch der Vorfahr war einer, der sich die Literatur als Beruf hätte vorstellen können und zeitlebens politische Schriften verfasste. Sein Lebensbericht gab meinem Schreibvorhaben die dritte Stimme, eine Stimme aus einer Zürcher Vergangenheit, die mir bald schon so fremd vorkam wie nur irgendein fern liegendes Land.
Liebesgeschichten, Paarungsgeschichten, Familiengeschichten. Die Themen waren schnell klar, die Stimmen wurden es zunehmend. Zwischen ihnen die Balance zu finden dauerte. »Der Essay«, schreibt Enrique Anderson Imbert, »ist ein konzeptionelles Kunstwerk. Seine Struktur folgt einer gewissen Logik, aber es ist eine Logik, die singt.« Auf dem Weg dorthin fielen weitere Entscheidungen, diejenige etwa, die Gichteranfälle der Vorfahrin in ihrer ganzen Rätselhaftigkeit stehen zu lassen, die Frau des Vorfahrs als schwarzes Loch. »Du hättest dir doch etwas ausdenken können!«, meinte eine Freundin, die mir das ein wenig übel nahm. Aber ging es nicht gerade darum, dieses Nicht-Wissen auszuhalten, mit allem, was darin mitschwang; als ein Abgrund, über dem meine Stimmen schweben würden, leicht wie Origami-Vögel an einem Mobile?
Balance und Befreiung. Am Ende sitzt die Ich-Erzählerin in einem Gefährt neben dem Mondmann und lässt ihre Zettel aus dem Fenster fliegen. Es liegt Glück in dem Bild. »Natürlich geht es in deinem Buch auch darum«, sagte mir eine andere Freundin. »Ist es nicht das, was wir uns alle wünschen – nämlich die ganzen Papiere und Hinterlassenschaften auch einmal hinter uns lassen zu können?«
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Bildnachweis: (ganz oben): © Baugeschichtliches Archiv Stadt Zürich. (Bild 1, links): © Familienbesitz. (Bild 1, rechts): © Handschrift Barbara Gloor, Familienbesitz. (Bild 2, links): © Linth-Escher-Stiftung. (Bild 2, rechts): Wellcome Library, London;
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