Unsere heutige Gesellschaft ist stark geprägt durch Leistungs-, Konkurrenz- und Erfolgsdenken. Immer schneller, noch effizienter sollen die Menschen funktionieren. Gleichzeitig das Handy oder den Computer bedienen und mit dem Gegenüber sprechen – nicht selten begegnet man solchen Situationen. Ein gutes Gedächtnis ist dafür unabdingbar.
Das Gedächtnis ist aber mehr als nur das Wissen, was geschehen ist, was im Moment passiert, was ich mir angeeignet habe. Das Gedächtnis hilft mir, mich in meiner Biografie zu orientieren, auf Erkenntnisse und Erfahrungen zurückzugreifen. Es ist Voraussetzung dafür, dass ich die Zukunft planen kann, mittelfristig, aber auch unmittelbar. Ein Aussetzer des Gedächtnisses verunsichert deshalb zutiefst und bringt uns in Erklärungsnotstand.
Wir alle kennen solche Situationen: Wir werden mit dem Namen angesprochen und können das Gegenüber nicht mehr richtig einordnen. Der Gesprächspartner weist einen darauf hin, dass wir das Gesagte bereits zuvor erzählt hatten. Wir suchen unsere Schlüssel und verzweifeln. »Alzheimer lässt grüßen«, ein Satz, der in Momenten des Vergessens schnell gesagt und gedacht wird. Alzheimer, das Schreckgespenst, vor dem sich alle fürchten. Eben gerade in unserer heutigen Welt, die von Kognition und Rationalität regiert wird. Alzheimer, die »Pest dieses Jahrhunderts«? So wurde kürzlich während des G8-Gipfels die Krankheit bezeichnet.
Alzheimer wird damit als Metapher für das Vergessen missbraucht, für das in der heutigen Zeit gar kein Platz vorgesehen ist und das in uns nur Angst stiftet. Was löst das aus bei Betroffenen und Angehörigen, was in unserer Gesellschaft? Wäre es nicht an der Zeit, das Vergessen auch als Erfolgsfaktor anzuschauen? Ohne Vergessen kein Überleben: Unser biografisches Gedächtnis muss vergessen können, damit Platz für Neues entsteht. Unsere Festplatte, so könnte man den Speicher unseres Gehirns auch nennen, muss immer wieder neu formatiert, für uns Unwichtiges muss gelöscht werden. Die Erfahrung zeigt, dass wir Dinge speichern, die für uns wichtig sind, insbesondere emotional geprägte Ereignisse unseres Lebens. Könnte Vergesslichkeit folglich verstanden werden als eine Einladung dazu, dass wir unser hektisches Leben neu überdenken sollten? Ist es möglich, dass uns die Alzheimererkrankten sogar einen Schritt voraus sein könnten, indem sie im Jetzt, fragmentarisch in der Vergangenheit, aber nicht in der Zukunft leben? Ein Sein in einer anderen Dimension?
Diese fast schon philosophischen Gedanken sollen nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass eine Demenzerkrankung eine große Herausforderung für die Betroffenen und die Angehörigen ist. Sie wird in Zukunft immer mehr Menschen betreffen. Umso notwendiger ist ein würdevoller Umgang mit den Betroffenen.
Dr. med. Irene Bopp-Kistler ist Leitende Ärztin Geriatrie, Stadtspital Waid/ZH
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