Stechend, brennend, lähmend: Fragt eine Ärztin oder ein Arzt, wie sich der Schmerz anfühlt, fällt es vielen Patient/innen schwer, dies zu beantworten. Zwei Kommunikationsdesignerinnen haben Bildkarten entwickelt, die das Reden über Schmerz vereinfachen.
Wie bei vielen Erfindungen stand bei der Dolografie (dolor lat.: »Schmerz«, grafie griech.: »schreiben, zeichnen«) ein Zufall am Anfang. Sabine Affolter und Katja Rüfenacht studierten Communication Design an der Hochschule der Künste in Bern, ein Thema für die Masterarbeit musste gefunden werden. Rüfenacht litt an chronischen Hüftschmerzen, und die beiden fragten sich, ob Schmerzen visualisiert werden können. Bis sie sich sicher waren, dass dies möglich ist, dauerte es rund ein halbes Jahr. Am Anfang interessierte Affolter und Rüfenacht die Idee aus gestalterischer Sicht. Erst später wurde es zum Thema, daraus ein Produkt zu machen. Weitere dreieinhalb Jahre dauerte es nebst dem Studium und anderen Tätigkeiten, bis die 34 Bilder in Postkartengröße schließlich so weit waren, dass sie von Schmerzexpert/innen verwendet werden konnten.
Keine Messinstrumente für Schmerz
Der Satz »Schmerz ist das, was immer ein Patient darunter versteht, und ist vorhanden, wann immer ein Patient ihn wahrnimmt« ist für viele Schmerzkliniken, aber auch Hospizen zu einem Grundsatz geworden. Er stammt von der Pionierin im Schmerzmanagement Margo McCaffery und bringt die Sache auf den Punkt: Schmerzen sind subjektiv. Bei einem Beinbruch kann ein genauer Befund gemacht werden, der Schmerz, der dadurch verursacht wird, ist nachvollziehbar, die Patientin oder der Patient erlebt ihn stärker oder weniger stark. Bei chronischen Schmerzen, d.h. solchen, die länger als drei Monate dauern, ist oft keine klare Ursache ersichtlich. Beim Schmerzempfinden spielen biologische, psychologische und soziale Faktoren eine Rolle. Je genauer eine Patientin oder ein Patient seine Schmerzen beschreiben kann, desto mehr Hinweise erhält die Fachperson für die Behandlung.
Es gibt weltweit keine objektiven Messinstrumente für Schmerzen. Fachpersonen müssen die Patient/innen also danach fragen oder sie gezielt beobachten. Die Beschreibung der Schmerzqualität fällt jedoch vielen Menschen schwer, es fehlen ihnen exakte Worte für ihre Empfindungen. Oft nennen sie affektive Aspekte wie quälend, lähmend, heftig oder sensorische wie stechend, ziehend, krampfartig. Häufig werden auch Skalen verwendet. Die Patient/innen sollen auf einer Spanne zwischen 0–10 ihre Schmerzen einschätzen. Dies gibt bei wiederholter Nachfrage während der Therapie einen Hinweis auf den Erfolg der Maßnahmen.
Dolografien sind vieldeutig
Die Dolografie-Karten sollen eine visuelle Hilfe in der Schmerztherapie sein, damit die Patient/innen ihre Schmerzen im Gespräch besser beschreiben können. Die beiden Kommunikationsdesignerinnen Sabine Affolter und Katja Rüfenacht haben anfangs rund 300 Bilder in ganz unterschiedlichen Medien und mit verschiedenen Verfahren erstellt. Diese haben sie unter anderem zusammen mit Dr. med. Niklaus Egloff vom Inselspital Bern in schmerztherapeutischen Gesprächssituationen getestet. Daraus ist schließlich ein Set von 34 Karten entstanden. Ganz wichtig sei es, dass die Bilder keine konkreten Gegenstände zeigen, dass »der Herstellungsprozess nicht dominant, keine künstlerische Hand sichtbar, und sie nicht semantisch eindeutig sind«, so Affolter. So sind die einzelnen Bilder für die Patient/innen unterschiedlich interpretierbar. Die Aussagen zu den drei Dolografien, die diesen Artikel bebildern, sind folglich sehr subjektiv, andere Schmerzpatient/innen würden sich anders dazu äußern.
links: »Dieses Bild zeigt die ständige Unruhe in meinem Körper. Wenn ich meine Ruhe hätte, dann würde sich das beruhigen und damit auch der Schmerz.« – A.F.*
Mitte: »Das Bild zeigt das Körpergefühl, das ich gerne hätte: Harmonisch und ausgeglichen.« – A.F.*
rechts: »Das ist das Gefühl in meinen Beinen: ein nervöser, von oben nach unten ziehender Schmerz.« – S.E.*
* Die Zitate stammen von Schmerzpatient/innen, die mithilfe der Dolografie ihren Schmerz beschrieben haben. Ihre Initialen wurden geändert.
Schmerz zum ersten Mal gesehen
Sabine Affolter schätzt, dass inzwischen an rund 300 Orten die Dolografie angewendet wird. Das Klinikum Dortmund hat über ihre Erfahrungen damit bereits publiziert. Sie verwenden seit Juni 2017 bei ausgesuchten Patient/innen mit chronischen Schmerzen die Methode. Die Patient/innen wählen drei bis sechs Karten aus, die das momentane Schmerzempfinden widerspiegeln. Danach beschreiben sie anhand der Bilder, was sie fühlen. Das Ganze wird nach drei bis sieben Tagen wiederholt. Die Fachpersonen am Klinikum haben festgestellt, dass dann oft Karten gewählt werden, die eine »Verbesserung der Schmerzempfindung darstellen«. Die Patient/innen beschreiben zudem die Schmerzen viel ausführlicher und detaillierter als ohne Karten. Die Schmerzexpertin Heike-Christine Strohmeyer-Kirsch berichtet davon, dass viele Patient/innen »zum ersten Mal das Gefühl [haben], ihr Schmerzempfinden transparent ihrem Gegenüber erläutern zu können« und es solche gab, die geweint haben, weil sie zum ersten Mal »ihren Schmerz« gesehen haben. Aus den Bildern lasse sich für die Fachleute zwar keine Therapie ableiten, aber es sei eine wichtige Hilfestellung für die Schmerzanamnese und fördere die Kommunikation und das Vertrauen zwischen Patient/innen und dem pflegerischen und behandelnden Team.
mehr zur Dolografie
Leiden Sie unter Migräne? Über die Symptome, den Schmerz und was Sie dagegen tun können, finden Sie alle wichtigen Informationen unter kopfschmerz-frei.de
Bildnachweis: © Affolter/Rüfenacht
rüffer & rub Sachbuchverlag GmbH | Alderstrasse 21 | CH-8008 Zürich | +41 (0)44 381 77 30 |