Was ergibt sich aus der Quersumme von strenger Gouvernante, liebevoller Mutter, verschwiegenem Pfarrer, mitfühlender Krankenschwester, stets offene Ohren habendem »Buddy«, niemals die Geduld verlierender großer Schwester, mitreißender Aktivierungstherapeutin und lebendiger Klagemauer?* Nicht die Eier legende Wollmilchsau, sondern das meist hinter den Kulissen agierende Wesen – genannt Lektor, Lektorin. Fällt dem Autor nichts mehr ein und muss deshalb die Figur über die Klippe springen? Die Lektorin verhindert so manchen Grabstein. Gerät die Autorin in einen Adjektivrausch? Der Lektor eliminiert still und leise drei von fünf. Sieht sich der Autor als Inkarnation von Thomas Mann? Die Lektorin setzt Semikolon und Punkt und hält den Tobsuchtsanfall mit nie versiegendem Wohlwollen aus.
Ob holprige Übergänge zwischen zwei Abschnitten oder ein vergeigtes Finale; ob unbeholfene Wortschöpfungen oder lahmer Plot; ob zu viel oder zu wenig von allem: Lektor und Lektorin kneten, feilen und polieren, was die 26 Buchstaben hergeben. Wohl dem Autor und glücklich die Autorin, die dieses nicht hoch genug zu schätzende Wesen an ihrer Seite wissen. Es ist eine Beziehung fürs Leben – in guten wie in schlechten Tagen –, hält oft länger als jede Ehe und wird mit jedem neuen Buch stabiler und inniger. Nur heiraten sollte man seinen Lektor oder seine Lektorin nicht …
* Falls Sie glauben, diese Eigenschaften in sich zu vereinen: Werden Sie Lektor/in!
Bildnachweis: © Laila Defelice
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