Es war dieses eine Bild, hing über Jahre bescheiden gerahmt in der Wohnung der Verlegerin Inge Feltrinelli an der Via Andegari in Milano. Und es wurde während Jahrzehnten kaum beachtet. Bis vor etwa 20 Jahren eine Freundin des Hauses bei einem Verlagsempfang vor der quadratischen Schwarz-Weiß-Fotografie stehen blieb. Es muss für sie ein Moment gewesen sein, wie ihn Roland Barthes in seinem Buch »Die helle Kammer« mit dem Begriff »punktum« umschreibt. Man sieht im Leben eine Flut von Fotografien und bleibt von einer Mehrzahl dieser Bilder nicht sonderlich beeindruckt. Das sind die Bilder, die Barthes als »faktum« bezeichnet. Dann aber gibt es Fotografien, die einen wie aus heiterem Himmel mit großer Dringlichkeit mitten ins Herz zu treffen scheinen. Es gehen Welten auf – punktum. »Wer hat dieses Foto gemacht?«, wollte die Geladene von Inge Feltrinelli wissen. »Das habe ich gemacht, vor bald 50 Jahren auf Kuba – mit Selbstauslöser«, sagte die Verlegerin. »Warum fragst du?« Das sei ja unglaublich, meint die staunende Dame. »Hast du mehr davon?«
Diese eine Fotografie aus Kuba hat die junge Fotografin Inge Schoenthal quasi über Nacht berühmt gemacht. Links steht da vor dunklen Wolken ein bärtiger älterer Mann; leicht höher stehend, eine strahlende, lachende junge Frau. Zusammen halten sie einen gigantischen Merlin ins Bild. Und rechts ist noch eine dritte Person, vielleicht ein Fischer. Er scheint mit seiner rechten Hand die junge Frau zu stützen.
Dieser Bildinhalt ist so weit für jeden lesbar, der die Fotografie betrachtet. Wer aber erkennt, dass der bärtige Mann mit schwarzer Wollmütze der amerikanische Schriftsteller Ernest Hemingway ist, der kommt ins Fantasieren. Und mit Recht. Die Fotografie setzt den Anfang einer Geschichte, die sich bis heute immer weiter fortschreibt. Die damals junge Inge Schoenthal ist heute Inge Feltrinelli, 86, Präsidentin eines der letzten großen, unabhängigen Verlage Italiens. Ist der Fotografie ablesbar, wie es kommen konnte, dass die junge deutsche Frau zur vielleicht einflussreichsten Verlegerin Italiens wurde?
Für Inge Feltrinelli steckt in diesem Foto mehr als Barthes’ »punktum«. Es ist ein Lebensbild, ein schieres Orakel. Es war der Verleger Heinrich Maria Ledig-Rowohlt, der die gerade einmal 22-jährige Fotografin bat, nach Kuba zu reisen, um Hemingway zu besuchen und ihn zu bitten, seine Übersetzerin zu wechseln. Auf Briefe hatte Hemingway seit Monaten nicht mehr reagiert. Und so dauerte es in Kuba länger, bis der Schriftsteller die Fotografin empfing. Dass sie es schließlich schaffte, ihn so inszeniert mit dem Merlin, einem Fischer und sich selbst ins Bild zu rücken, war alles andere als selbstverständlich. Das Foto ging um die Welt. Jahre später hat Inge Schoenthal bei einem Empfang im Hause Rowohlt den engagierten linken Verleger Giangiacomo Feltrinelli kennengelernt. Und war schon bald seine dritte Frau.
Die Geschichte ist schon oft erzählt worden. Der 2013 im Göttinger Steidl Verlag erschienene Bildband »Mit Fotos die Welt erobern« dokumentiert opulent, dass die Fotografie mit Hemingway kein Zufallstreffer der Fotografin Inge Schoenthal war. Sie war ein Talent, technisch wenig interessiert, aber mit einem untrüglichen Sinn für Gestaltung und den »entscheidenden Moment« – im Bild und im Leben.
Ihr Leben als Fotoreporterin hatte Inge Feltrinelli 1958 abgeschlossen. Ihr ganzes Engagement galt fortan dem Verlag. Es ist der oben erwähnten geladenen Dame zu danken, dass Sohn Carlo irgendwann auf den Estrich stieg, um nach den vergessenen Kisten mit Tausenden von Negativen und Kontaktabzügen zu suchen. Er fand die Kisten. Und die Welt fand Inge Schoenthal wieder. Ob sich vergleichbare Funde auch im Zeitalter der digitalen Fotografie noch werden machen lassen, wird sich weisen müssen. Es ist auf jeden Fall die sperrige Materialität der analogen Fotografie, die verhindert hat, dass sich dieses Werk in irgendeiner Cloud verflüchtigen konnte.
Bildlegende: links: Besuch bei Ernest Hemingway auf Kuba, 1953, Kontaktbogen. | rechts: Selbstporträt mit Hemingway und Merlin, 1953. © Inge Schoenthal/Feltrinelli
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