Ein Mann, den man ein wenig kennt, nicht nur aus seinen Büchern und Artikeln, gibt seine Gedichte heraus. Man liest ihn plötzlich nicht nur neu, spitz gesagt: man erkennt ihn nicht wieder. Dafür kann es passieren, dass er einem vertraut wird – sogar unheimlich vertraut. Woher weiß er das von mir?
Gelungene Gedichte führen Leserinnen und Lesern vor: sie haben sich selbst nicht gekannt. Gedichte sind Erfahrungen, sagt Rilke. Dabei sind die selbst gemachten mit denen, die ein Gedicht auslöst, nicht zu verwechseln, sogar deutlich anders. Eben darum sind sie nicht fremd, auch nicht die befremdlichen, ja erschreckenden. Denn sie belegen: Je est un autre (Rimbaud). Das geht dem Leser nahe, aber es ist auch ein Glück. Was einem entgegenkommt, hat so noch keiner gesehen.
Ja, was ist es denn? Nichts, bei dem mir Hören und Sehen vergeht; im Gegenteil. Auch nichts, was sich ebenso gut anders sagen ließe, sonst ist es kein Gedicht. Da wird mir auch nichts auf den Kopf zugesagt. Und nichts davon ist »allgemeingültig«, auch wenn das Schulmeistern gelegen käme. Wenn das Gedicht mich anrührt, dann in jenem Sinne, den der alte Goethe zum Maß aller Dinge erklärt hat: »Was ist das Allgemeine? Der besondere Fall. Was ist das Besondere? Millionen Fälle.« Nach diesem Maß funktioniert heute keine der herrschenden Technologien, auch keine der neuen Universalwissenschaften, Ökonomie und Statistik. Das Gedicht ist ein Solitär und wirkt wie der Everest auf Sir Edmund Hillary. Warum musste er da hinauf? »Because it is there« – Mit einem Gedicht verkehrt man von Existenz zu Existenz.
Die Spur einer Katze im Schnee von gestern genügt.
Existieren heißt »Herausstehen«, das Englische fügt plastisch hinzu: like a sore thumb. Das Gedicht hat diese Invalidität in den Genen. Sein Archetyp ist die Klage über Verlorenes: verlorene Liebe, verlorene Jugend, verlorene Zeit. Psychologen würden von »Trauerarbeit« reden; Sprachmenschen reizt sie zum Dichten. Dabei setzen sie sich großen Widersprüchen aus, der Hochspannung zwischen Stoff und Form. Die Seelenlast verlangt für ihre Behandlung die größte Leichtigkeit. Das Unbegreifliche fordert Einverständnis heraus, das Unerträgliche Heiterkeit. Der Ernstfall will spielen, nach Regeln, die noch weniger feststehen als der Betroffene. Sie wollen sich finden: durch das Spiel. Keinem Trauernden ist nach Tanzen zumute: und gerade das verlangt das Gedicht in jedem Satz: sonst fehlt die Musik. Hier und Jetzt! davon gibt es keinen Dispens.
Hölderlin über die Tragödien des Sophokles:
Manche versuchten umsonst, das Freudigste freudig zu sagen, / Hier spricht endlich es mir, hier in der Trauer sich aus.
Georg Kohler hat zwei geliebte Lebensgefährtinnen an den Tod verloren; dafür macht er ihm keinen Prozess, wie einst der »Ackermann aus Böhmen« (im Jahrhundert des Humanismus einfach ein Pseudonym für »Dichter«). Dieser Dichter, Georg Kohler, will über das, was ihn am tiefsten trifft, nicht recht behalten. Er hat offenbar eine Naturbegabung für das, was er als Philosoph »amor fati« nennen würde. Er ist jener Good sport oder jener Gentleman, über den ich in der Schule gelernt habe: He is acceptable at a dance, and invaluable in a Shipwreck. Schiffbrüche soll man ihm nicht ansehn, und wäre es aus Anstand gegen die Wohltat des Lebens: »Dasein ist Pflicht, und wär’s ein Augenblick« – das sagt alles. Und zum Beweis braucht er nicht, wie Faust, eine Teufelswette dazu. Die Spur einer Katze im Schnee von gestern genügt.
Manche Tänzchen mit der eigenen Lebenszeit versagt sich der Dichter nicht, etwa, wenn er zwei Gedichte einander gegenüberstellt, die am gleichen Apriltag entstanden sind – erst beim zweiten Blick sieht man die ganz verschiedenen Jahreszahlen – aber auch 68 und 86 spielen mit ihrer Symmetrie. Der Scherz bleibt undurchsichtig – harmlos ist er gewiss nicht. Kohlers Neigung, Gedichte zu datieren und zu lokalisieren, verbreiten eine trügerische Übersichtlichkeit. Es sind weniger Orientierunghilfen als Verlustanzeigen. Hier werden nicht nur die Felsen verbucht, an denen sich Odysseus grade noch mal festhalten konnte, sondern auch Strohhalme gesammelt, nach denen er umsonst gegriffen hat.
Das stärkste Spiel treibt der Dichter mit dem mehrfachen Sinn seiner Wörter. Eine Abteilung des Buches ist den »Verschiedenen« gewidmet. Es sind seine Toten (passed away) und dass sie auch »die Anderen« (different) sind, haben sie mit den Lebenden gemeinsam, nur sind sie es für immer – bei den Mitmenschen verändert sich die Differenz jeden Tag. An den Toten erfährt man, dass sie nicht nur lästig, sondern ein Lebenszeichen ist – also zumutbar. Umgekehrt darf auch das Verhältnis zu den Toten lebendig bleiben. Sie sind auch vor ihrem Tod nicht nur »The Loved ones« gewesen, zu denen sie die Friedhofssprache einfriert. Sie setzen uns zu und verweigern sich summarischer Pietät. Damit wird auch die Art der Trauer zu einer Sache ziviler Achtung – und humaner Selbstachtung. Ein Mensch, der sich nichts vergeben, dem Andern nichts nachsehen kann, wird – ohne Not – zum Todesfall zu Lebzeiten.
Sich foutieren um alle Antworten, die nicht zu größeren Fragen geführt haben.
Kohlers Gedichte sind radikal urban. Wenn das ein Widerspruch ist – gut so, sie leben davon. Sie machen den besonderen Fall, den eigenen Lebensfall, so allgemein – und so mitteilbar, wie er es in keiner Autobiografie sein könnte, und keiner philosophischen Studie. Warum schreibt einer Gedichte?
Darum.
Als denkender Citoyen ist Kohler immer dabei, wenn es darum geht, die Gesellschaft besser »aufzustellen«. Aber als Dichter interessiert er sich nicht für die Kunst des Möglichen, sondern für die Möglichkeit der Kunst. Was kann sie? Die Wirklichkeit mit ein paar Zeilen freistellen von der Fable convenue, die – nach Hofmannsthal – die Banausen aus ihr machen. Sie kann nachfragen, warum er eine Frau Link, die vor einem halben Jahrhundert in der Redaktion seiner Studentenzeitung aufgeräumt hat, nicht vergessen kann. Überhaupt: die Urteile über Groß und Klein richtigstellen. Sich foutieren um alle Antworten, die nicht zu größeren Fragen geführt haben. Aufräumen mit der Fiktion, das Individuum sei, was sein Name sagt, unteilbar – das weiß er von sich selbst nicht besser oder schlimmer, sondern anders. Was ist das Schöne an einem Gedicht? Dass es einmalig ist, wie unser Leben. Dass seine Form sensibel genug begrenzt sein muss, damit seine Anschlussfähigkeit an unsere Erfahrung unbeschränkt sei – was wir uns aus ihm machen, macht es mit uns. »Dass ganz alles anders ist« (Ludwig Hohl) ist die Arbeitshypothese der Dichtung – sie probiert eine Welt, in der wir anders sein können. Wenn auch nicht »ganz anders«, wie Theologen den Gott nennen, der uns in der Bibel »nach seinem Bilde« geschaffen hat. Da kommt Georg, als Protestant, beim Bildnisverbot schon eher mit. Eine Challenge für jede Kunst, die angeblich aus Bildern besteht! Aber ein Schweizer will es auch als Dichter nicht ruhig haben. Das stimmt nicht zu seiner Vorstellung von Lebenskunst.
Niels Bohr erklärte, in der Teilchenphysik erkenne man wahre Sätze daran, dass ihr Gegenteil genau so wahr sei. In Kohlers Gedichten ist immer noch etwas anderes wahr als nur das Gegenteil. Nennen wir es: das Inkalkulable. Es bewegt die Wörter dazu, ein Gedicht zu werden – mehr oder weniger? Nein: mehr und weniger.
Ich teile, als Freund und Anderer, die Dankbarkeit für sein Leben, mit dem er das Gedichtbuch – in Prosa – abschließt, und wünsche seinen 75 Jahren noch viele gute und heitere dazu. Und dem Geschenk, das er sich selbst gemacht hat, Leserinnen und Leser. Sie können erleben, dass es noch ein anderes Virus gibt als Corona: einen Esprit, der jedem Leser gnädig ist, und keinem gefällig.
Bildlegende: oben rechts: Schriftsteller Adolf Muschg. © Adolf Muschg
rüffer & rub Sachbuchverlag GmbH | Alderstrasse 21 | CH-8008 Zürich | +41 (0)44 381 77 30 |