Max Lichtegg – Versuch einer Würdigung aus der Sicht seines Biografen und ehemaligen Schülers.
Casino Zug, 5. April 1967: »Wiener Operetten-Wunschkonzert«. Die Sopranistin Ditta Rokar und Max Lichtegg gastierten in Begleitung des Pianisten Hans-Willi Haeusslein. Der Freund, der mich eingeladen hatte, wunderte sich sehr, dass ich den Namen dieses Sängers nicht kannte. In schwärmerischen Worten klärte er mich darüber auf, dass dieser Mann seit über 25 Jahren zu den absoluten Lieblingen des Zürcher Opernlebens gehörte und auch international gefeiert wurde. Sehr bald verstand ich die Faszination, die von diesem Künstler ausging; sein jungenhaftes Auftreten, sein offenes Lächeln, die musikalische Verschmelzung in den Duetten, kurz – ein Tenor, der sein Publikum zu umarmen schien und dessen Ausstrahlung sich niemand zu entziehen vermochte. Mit knapp 18 Jahren von dem Wunsch besessen, selbst Sänger zu werden, eröffnete mir dieses Erlebnis eine Welt, die mir niemand mehr auszureden vermochte.
Während der ersten Erfahrungen als Chorsänger bestärkten mich Ermutigungen von Solisten wie des Dirigenten, mich ernsthaft um eine Ausbildung zu bemühen. Dabei dachte ich an Max Lichtegg, traute mich aber nicht, mich mit ihm in Verbindung zu setzen. Nicht nur mangelndes Selbstvertrauen hinderte mich an diesem Schritt, sondern auch meine knappen finanziellen Mittel sprachen dagegen. Ein glücklicher Zufall führte mich zu Franziska Petri, die 15 Jahre die großen Sopranrollen am Luzerner Stadttheater verkörperte und – nebst internationalen Gastspielen – mehrmals mit Lichtegg in Zürich sang. Sie war unter anderem seine »Königin der Nacht« in Mozarts »Zauberflöte«, aber auch Radioaufnahmen führten die beiden zusammen. Kaum ein Jahr verging, als sie mich ermutigte, am Talentwettbewerb »Die erste Chance« von Radio Basel teilzunehmen. Ihrem Hinweis folgend, hörte sich Max Lichtegg die Sendung an, und mit gemischten Gefühlen rief ich ihn danach an, um seine Meinung zu erfahren. Noch ehe das Ergebnis der Publikumsabstimmung bekannt gegeben wurde, kommentierte er: »Sie waren ja der Einzige der 14 Kandidaten, der eine Stimme hatte.« Dieses Kompliment beflügelte mich mindesten so sehr wie die Tatsache, dass ich als Sieger aus dem Wettbewerb hervorging. Mein Lied »Alle Tage ist kein Sonntag« stand denn auch sinngemäß für die kommende Zeit, von der ein junger Gesangsbegeisterter nicht zu ahnen vermag, wie schwer es ist, sich in diesem Künstlerberuf durchzusetzen.
Nach etwa einem Jahr Unterricht war Franziska Petri der Meinung, dass es an der Zeit wäre, künftig mit einem Tenor zu arbeiten. Nun gab es keine Zweifel mehr, dass mein Weg mich nach Zürich führen würde. Was die Honorare für Gesangsstunden betraf, so hörte ich von anderen Studierenden jedoch die erschreckendsten Zahlen; eine nicht minder berühmte Sopranistin von auffallend kleinem Wuchs verlangte volle hundert Franken pro Stunde! Doch nach einem Vorsingen beim berühmten Tenor – ich wählte Schuberts »Du bist die Ruh« und den »Kleinen Gardeoffizier« von Robert Stolz, seine Tochter Rachel begleitete mich am Flügel – vermochte Max Lichtegg mich von der Angst zu befreien, dass ich mir den Unterricht nicht leisten könnte: bescheidene 30 Franken wollte er für die Gesangsstunden. So klingelte der Schüler Fassbind voller Erwartung am 3. Juli 1971 erstmals an der Höschgasse 29. Intensives Herzklopfen erfasste mich, als der Aufzug in der 3. Etage anhielt. In der geöffneten Wohnungstür erwartete mich bereits der »Herr Lichtegg«. Im Studierzimmer, wo der Flügel stand, kam es mir vor, als stünde ich in einer von Mozarts »heil’gen Hallen«. Ein beeindruckender hoher Raum mit herrlicher Stuckaturdecke, dann die Bücherregale, Notenschränke, Fotos und die riesigen Grünpflanzen rund um das große Fenster. Die leicht geöffnete rechte Türe erlaubte einen Blick ins Esszimmer. Außer dem ovalen Tisch in der Mitte, über dem ein riesiger Lüster hing, faszinierte mich vor allem eine prächtige, silberne Menora, die sich vor einem roten Wandteppich abhob. Abgesehen von den optischen Eindrücken erinnere ich mich von der ersten Stunde an einen Ausspruch des Meisters: »Vergessen Sie nie: Singen ist Ton gewordener Atem! Nur darauf lässt sich eine Technik aufbauen, die der Stimme den richtigen Sitz ermöglicht.« Wie schwer es sein würde, diese so einfach klingende Regel anzuwenden, vermochte ich damals nicht zu erkennen. Als ich das Haus verließ, erschien mir die Zukunft in rosigem Licht, und ich fühlte mich buchstäblich wie »Auf Flügeln des Gesanges«.
Unsere intensive Arbeit begann zu einer Zeit, in der Max Lichtegg sich allmählich von der Bühne zurückzog. Noch wurde er in der Schweiz und in Deutschland im »Land des Lächelns« und in der »Nacht in Venedig« gefeiert. Mit über 60 Jahren sang er im Rahmen der Junifestwochen im Opernhaus Zürich den Tamino in der »Zauberflöte« und bekam dafür anerkennende Presse. Künftig aber wollte er sich ausschließlich dem Konzert und vor allem den Liederabenden widmen. Diesem Fach der Gesangskunst galt seit je seine besondere Aufmerksamkeit, und es führte ihn noch erfolgreich bis in die Mitte der 1980er-Jahre auch mehrfach in die USA. »Zu unterrichten war eigentlich schon länger mein Wunsch«, äußerte er sich einmal und fügte hinzu: »Doch irgendwie hatte ich auch Bedenken, denn ob nun eine Koloratursängerin oder ein Bassist vor mir stand – es wurde doch zu Recht erwartet, dass ich den Schülern alles ›vormachte‹. Es dauerte jedoch nicht lange, bis ich bemerkte, wie viel ich selber dadurch lernte, indem ich mich mit Gesangsliteratur befassen musste, die nichts mit meinem Tenorfach zu tun hatten.«
Lichtegg war als Lehrer ein ausgesprochen gütiger Mensch mit viel Humor. Nie hatte man das Gefühl, eine Autorität vor sich zu haben. Vermochte eine noch unerfahrene Stimme nicht das umzusetzen, was er demonstrierte, so versuchte er stets einen anderen Weg zu finden, um das nötige Körpergefühl zu vermitteln. Da er alles vorsang, mit welchem Lied man sich auch immer beschäftigte, hörte ich ihn so oft sagen: »Wenn ich es in meinem Alter kann, warum sollen Sie als junger Mensch es nicht auch können?« Stets zeigte er unendliche Geduld und sparte auch nicht mit Lob, wenn er das erreichte, was er zu erklären versucht hatte.
Bei aller Berühmtheit wurde es Max Lichtegg nicht leicht gemacht, als Pädagoge auf Privatbasis anerkannt zu werden. Unvergessen blieb mir eine Antwort der Kantonalen Erziehungsdirektion, bei der er sich dafür einsetzte, für mich einen Studienbeitrag zu erwirken. Mit der Begründung, dass er weder eine offizielle Stelle am Konservatorium bekleide, noch einem eingetragenen pädagogischen Verein angehöre, sei dies nicht möglich. Erst auf Intervention eines einsichtigen Direktionsmitgliedes wurde ein einmaliger Betrag gesprochen. Dazu Lichtegg in teils scherzhaftem, teils verärgertem Ton: »Vielleicht hätte ich dem Ausschuss etwas vorsingen müssen, um die zu überzeugen, dass Sie von mir etwas lernen können.« Dennoch gab es viele Beziehungen, die er zum Wohle seiner Schützlinge einsetzen konnte. So empfand ich es als Kompliment, als er bei meinem ersten Liederabend 1974 mit Schumanns »Dichterliebe« dafür sorgte, dass ich keinen Geringeren als Rudolf Spira als Pianist an meiner Seite hatte. Für Auftritte, bei denen es an seiner Kritik nicht fehlte, gab es immer ein anerkennendes Präsent, oftmals in Form eines Klavierauszuges. Darin immer ein Sinnspruch wie: »Dichterliebe gut zu singen kann nur Auserlesenen gelingen. Dass zu diesen Sie gehören, möcht’ schon jetzt ich fast beschwören.« Zu einem Konzert mit Liedern von Mendelssohn fand sich in meiner Garderobe ein Faksimile in der Handschrift des Komponisten von »Auf Flügeln des Gesanges«, und für ein Opernkonzert stand in Verdis Rigoletto-Auszug: »Per Aspera ad Astra!« – »Durch Mühen zu den Sternen!« und die Worte: »Mögen unter diesem Zeichen Sie das große Ziel erreichen, welches Sie so heiß erstreben: Der Kunst und durch die Kunst zu leben!« Mein liebstes Erinnerungsstück aus jener Zeit ist ein Kristallkelch. Darauf steht – nach Vorlage seiner Handschrift eingeritzt –, die erste Zeile des Liedes »Im Abendrot«: »O wie schön ist deine Welt …« Max Lichtegg setzte sich auch dafür ein, mir mein Bühnendedüt als »Zarewitsch« in einer ausgedehnten Deutschland-Tournee zu ermöglichen. Als besondere, lebenslange Beziehung erwies sich mir die Freundschaft zu seinem Sohn, dem Pianisten Theodor Lichtmann. Ein erstes Zeugnis dieser Zusammenarbeit ist die Aufnahme eines Schubert-Rezitals aus dem Jahre 1976.
Eine große, private Veränderung gab es für Max Lichtegg zu Beginn der 1970er-Jahre. Auf einem Ball war er 1953 einer blonden, 27 Jahre jüngeren Schönheit begegnet, deren Name ebenso stadtbekannt war wie der seine: Winterhalder. Die sich anbahnende Verbindung erwies sich als dauerhaft und zeigte im Jahre 1966 Folgen: Tochter Susanne wurde geboren. Um das Kind nicht ohne Vater aufwachsen zu lassen, entschieden sich Max Lichtegg und seine Frau Olga zur Scheidung. Damit stand einer Heirat mit Marietta nichts mehr im Wege. Die einschlägige Boulevardpresse wusste diese »Neuigkeiten um Max Lichtegg« wirkungsvoll zu verbreiten: »Die Zürcher nannten ihn ›Herrn Operettentenor‹« oder »Mit seiner Stimme brachte er Frauenherzen zum Schmelzen«, so titelten die entsprechenden Blätter.
Inzwischen war die Zahl der Gesangsschüler wesentlich gewachsen, und alle fanden in der Villa Winterhalder freundliche Aufnahme. Dort fanden regelmäßig Hauskonzerte statt, und es wurde oft bis spät in die Nacht gesungen, gegessen und diskutiert.
Das herzliche Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler wurde nur dann einer Belastungsprobe ausgesetzt, wenn sich ein Sänger anderweitig fortbilden wollte. Unverständlicherweise empfand Max Lichtegg das als Vertrauensbruch. Auch in meinem Fall bedurfte es längerer Zeit, bis er erkannte, dass mein Wunsch nach neuen Impulsen für mich richtig und nicht gegen ihn als Pädagoge zu verstehen war. Nach seiner Meinung hätte aus mir ein idealer Mozarttenor werden können – was zutreffend sein mochte, aber das entsprach nicht meinem Gefühl. Dennoch blieben wir auch künftig in freundschaftlichem Kontakt und besuchten oft gegenseitig unsere Auftritte. Zu jeder Zeit war mir bewusst, was ich diesem Mann zu verdanken hatte. Meine jahrelangen Nachforschungen um Joseph Schmidt interessierten ihn sehr, und er vermochte diese um einige wichtige Punkte zu ergänzen. Zum Thema Nachwelt blieb mir eine Äußerung von ihm in eindrucksvoller Erinnerung: An seinem Flügel sitzend meinte er: »Wer mag sich wohl einmal um meinen Kram kümmern?« In diesen Worten – eher wie ein Selbstgespräch klingend, nicht an mich gerichtet – lag eine unüberhörbare Melancholie.
Sein unerwarteter Tod im Jahre 1992 war ein schwerer Schlag für uns alle. »Papa Lichtegg«, wie wir ihn mit großer Achtung nannten, hinterließ eine große Lücke. Unbeirrt war er stets seinen Weg gegangen; nur der Musik verpflichtet – als Künstler, Lehrer und wertvoller Mensch.
Bildlegende: links: Nach einem Max-Lichtegg-Konzert 1978 in Neukirch (TG) mit Ehefrau Marietta und Alfred A. Fassbind | rechts oben: Nach einem Operettenkonzert 1976 im Theater Arth. Von links: Tenor Alfred A. Fassbind, Pianist Hans-Willi Haeusslein, Sopranistin Maria Häne, Max Lichtegg (als Gast) | rechts unten: Aus Lichtegg-Winterhalders »Hühnerhof«: Ei von »Sissi oder Löörli« (Ei von 1977, Aufnahme 1986); PS: Das Ei gibt es noch immer!! | Schallplattenaufnahme »Schubert-Lieder«; Max Lichtegg, Theodor Lichtmann am Flügel, Tenor Alfred Fassbind, Dezember 1976. © Rolf Breitenmoser
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