In seinem letzten Werk erschuf Urs Widmer den Mythos vom Föhn, dem warmen Fallwind, der die wetterfühligen Bewohner der östlichen Alpentäler durcheinanderbringt. Solche Auswirkungen von Winden sind keine Ausnahmeerscheinung, wie ein Blick auf die Alpensüdseite zeigt.
In Frankreich braust der Mistral das Rhonetal hinab und entfaltet seine volle Kraft im Golfe du Lion. Weiter östlich sorgt die Bora für stürmische Verhältnisse in der Adria, und im Süden dominieren die heißen Wüstenwinde des Schirokkos. Dies sind nur drei der zahlreichen Winde, die mit ihren Launen das Klima und die Landschaft rund um das Mittelmeer prägen. Sie sind zudem viel mehr als nur bewegte Luftmassen, die von hohem zu tiefem Tiefdruck strömen; um sie ranken sich Geschichten und Legenden, sie werden personifiziert, vergöttert und verflucht.
Selbst unsichtbar, bleibt er doch nicht unbemerkt; mit seinem Rauschen, Heulen und Pfeifen macht der Wind auf sich aufmerksam und wirbelt durch die Welt. Er bläst uns ins Gesicht, kaum haben wir das Haus verlassen, streichelt in lauen Sommernächten sanft über unsere Haut oder peitscht uns an stürmischen Tagen Böen ins Gesicht.
Er bringt Freude und Erfrischung, aber auch Sturm und Zerstörung. Die Unsichtbarkeit hat die Menschen jedoch nie davon abgehalten, seinen verschiedenen Ausprägungen Gestalt und Namen zu geben. So ist in der griechischen Mythologie Aiolos – ein pausbäckiger, ernster Mann mit Blasebalg – Herrscher über die Winde. Sein Sohn, der Westwind Zephyros, ist ein milder Frühlingswind und daher oft als blumentragender Jüngling dargestellt. Solche Personalisierungen des Wettergeschehens finden sich in vielen Kulturen und sind ein Versuch, den unberechenbaren Naturgewalten ihre Bedrohung zu nehmen, sie durch Namen zu bändigen.
Der große Störenfried der Adria
Wenn sich erste Anzeichen der Bora bemerkbar machen, gilt es ernst für die Seeleute in der Adria: Knapp dreißig Minuten bleiben ihnen, um sich vor dem Nordwind im nächstgelegenen Hafen in Sicherheit zu bringen, danach entfaltet die Bora ihre volle Kraft über dem Meer und peitscht die Wellen in Böen ans Ufer. Karl Marx beschrieb die Bora in seiner Abhandlung über den Seehandel Österreichs 1856 als unbarmherzigen, harten Wind, der die Menschen in Dalmatien prägt:
»Die Bora, der große Störenfried dieses Meeres, erhebt sich stets ohne das kleinste Warnungszeichen; mit der Gewalt eines Tornados überfällt sie die Seeleute und gestattet nur dem Kühnsten, auf Deck zu bleiben. Manchmal tobt sie wochenlang und am heftigsten zwischen der Bucht von Cattaro und dem Südende von Istrien. Der Dalmatiner aber ist von Kindheit an gewöhnt, ihr zu trotzen, er wird hart unter ihrem Atem und verachtet die armseligen Winde anderer Meere.«
Doch die Bora bringt nicht nur stürmische Winde mit sich, sondern auch einen unglaublich klaren, blauen Himmel, was »sehr schön und grazil und manchmal auch brutal aussehen kann«, wie es die serbokroatische Autorin Danijela Pilic in ihrem Buch »Sommer vorm Balkan« ausdrückt. Die Wetterlage entsteht, wenn sich kontinentale Luftmassen polaren Ursprungs östlich des Dinarischen Gebirges zu einem mächtigen Kaltluftsee einen. Entleert sich dieser aufgrund eines Mittelmeertiefs durch die Schluchten und Korridore des Balkangebirges, stürzt die kalte Luft mit voller Geschwindigkeit auf die Adriaküste hinunter. Ihren Namen – in Kroatien »Bura«, in Slowenien »Burja« genannt – hat sie Boreas, dem griechischen Gott der Nordwinde, zu verdanken.
Der Wind war‘s
In Sizilien gelingt es dem Schirokko regelmäßig, das Blut der Menschen in Wallung zu bringen. Er trägt heiße, trockene, sandbeladene Wüstenwinde aus Nordafrika nach Europa, die sich unterwegs mit der feuchten Luft über dem Mittelmeer mischen und so für ein drückendes Klima sorgen. Die Wetterlage macht die Menschen träge und reizbar – eine gefährliche Kombination, wie in Südeuropa allgemein bekannt ist. »Der Schirokko ist ein Wind voller Sand, der Schirokko ist ein Wind voller Zorn«, heißt es im italienischen Lied »vento di scirocco« der Band Il Parto delle Nuvole Pesanti. Da die negativen Auswirkungen des Schirokkos wie Aggression und Müdigkeit unbestritten sind, wird seine Präsenz in der italienischen Rechtsprechung sogar als Strafmilderungsgrund akzeptiert, denn in dieser Hitze ist man nur beschränkt zurechnungsfähig, »Verbrechen aus Leidenschaft« können leichter »geschehen«.
Die Ausläufer des Windes reichen manchmal bis nach Norddeutschland und tragen rötlich braune Sandpartikeln aus der Sahara mit sich, die für dunstige Verhältnisse sorgen. Zu »Blut- oder Schlammregen« kommt es, wenn der Schirokko über dem Meer viel Feuchtigkeit aufgenommen hat und nördlich der Alpen rötlich verfärbt abregnet.
Fluch und Segen
Die Anwesenheit des »vent du fada«, des verrückt machenden Windes, löst gemischte Gefühle aus. Weht der Mistral, werden in der Provence die Fensterläden als Schutz vor den kalten Böen geschlossen, die Dörfer wirken wie ausgestorben. Der böige Wind nimmt den Menschen Kraft und Konzentration, einige fühlen sich niedergeschlagen, andere haben Kopfschmerzen oder sind auffallend reizbar. Doch wenn sich der Mistral nach einigen Tagen wieder legt, fühlt sich die Luft frisch und sauber an, der Wind hat die verstaubte Welt ausgefegt. Im Sommer bringt er Erfrischung, im Herbst trocknet er die Feuchtigkeit aus der Luft und ist somit ein Segen für die Weinernte.
Der Mistral ist ein kalter, starker Fallwind, der aus nordwestlicher Richtung kommt und sich in der Provence, im unteren Rhonetal, auf Korsika und Sardinien bemerkbar macht. Die Alpen und Cevennen bilden eine Blockade für nach Südeuropa einströmende Polarluft, die nur durch den Graben des Rhonetals abfließen kann und so Windgeschwindigkeiten von bis zu 135 km/h erreicht. Im Golfe du Lion löst der Mistral hohen Wellengang und Sturmböen aus, die insbesondere für Segler gefährlich sind. Mit dem Starkwind verbunden sind kältere Temperaturen, ein wolkenloser, dunkelblauer Himmel, gute Fernsicht und ein beeindruckender Sternenhimmel. Trotz – oder gerade wegen – seines schwierigen Charakters ist der »Maestral«, wie der »Meister« in der Provence genannt wird, ein wichtiges Element der regionalen Identität. Er hat die Landschaft geformt (die Bäume beugen sich dem Wind und sind alle nach Süden geneigt) und ist verantwortlich für das intensive, klare Licht der Provence, das durch die Gemälde Vincent van Goghs internationale Bekanntheit erlangte. Sogar in der Architektur hat er seine Spuren hinterlassen: Die Nordseite alter Bauernhäuser ist fensterlos und so gebaut, dass sie dem Wind möglichst wenig Angriffsfläche bietet.
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