Lisa Bircher hat ihre Karriere als Ärztin gerade begonnen, Bruno Kissling arbeitet nach seiner Pensionierung noch im Teilpensum als Hausarzt. Zwei Ärzte, deren Position im Berufsleben unterschiedlicher nicht sein könnte, schreiben über ihren individuellen Bezug zum Arzt-Sein, die rasanten medizinischen Entwicklungen und ihr Verständnis von Qualität in der Medizin der Gegenwart.
Eine Medizin für Menschen
Von Lisa Bircher
Das klassische Verständnis von Medizin umfasst den folgenden Ablauf: Ein Mensch ist in seinem seelischen oder körperlichen Wohlbefinden gestört. Er sucht eine Ärztin auf, diese findet heraus, was das Problem ist, und behebt es. Dieses Verständnis von Medizin ist, so wie ich es sehe, die Regel, bei Ärzten genau wie bei Patienten. Es ist tief verankert: Schon in den Worten »Patient« (von lat. erdulden) und »Behandlung« schwingt Passivität mit. Hier möchte ich eine Alternative skizzieren: ein personenzentrierter Ansatz. Dieser Ansatz ist herausfordernd, weil er ein echtes Umdenken erfordert. Zugleich bietet er eine große Chance – für eine sinnvolle Medizin, von der wir alle profitieren können.
Eine personenzentrierte Medizin, so wie ich sie verstehe und zu leben versuche, funktioniert grundlegend anders: Ärztin und Patient bilden ein Team. Das gemeinsame Ziel ist eine Annäherung an das seelische und körperliche Wohlbefinden von genau diesem Menschen. Die Aufgabe der Ärztin umfasst dabei, dem Patienten ihr Expertenwissen auf verständliche Weise zur Verfügung zu stellen und dem Patienten als Mensch zu begegnen; zuzuhören, zu unterstützen und zu begleiten. Der Patient hingegen bestimmt als Experte für sich selbst, was für ihn hilfreich und wichtig ist, und gibt nach jedem Versuch Feedback, ob »die Medizin« geholfen hat oder nicht. Im Verlauf einer Krankheit mit jeweils neuen Gegebenheiten wird die Situation immer wieder neu besprochen. Die Prioritäten und Methoden können ändern, das Ziel bleibt das gleiche: das seelische und körperliche Wohlbefinden dieses einen Menschen. Die ganze Medizin, die Arzt-Patienten-Beziehung, Diagnostik und Therapie dienen diesem Ziel und sind ihm jederzeit untergeordnet.
Dies klingt einfach, ist es aber nicht. Wenn nämlich die Patientin dem klassischen Verständnis der Medizin folgt, wird sie der Ärztin nicht direkt sagen, was für sie wichtig ist. Vielmehr wird sie erwarten, dass die Ärztin ihr sagt, was zu tun ist. Also was dann, wenn die Patientin nicht ausdrückt, was ihr wichtig ist? Dann – das verstehe ich als eine meiner Kernaufgaben als Ärztin – versuche ich gemeinsam mit ihr herauszufinden, was wir tun können, damit sie ihrem körperlichen und seelischen Gleichgewicht wieder näher kommt. Geht es darum, besser atmen oder schlafen zu können? Schmerzfrei zu sein oder besser mit dem Schmerz umgehen zu können? Braucht sie Ruhe oder Anregung, Selbständigkeit oder Unterstützung, Verständnis? Mehr Selbstvertrauen, Freude, Leichtigkeit und Sinn im Leben? Und wie kommen wir dorthin? Was tut der Patientin gut? Was treibt sie an? Was ist ihr wichtig?
Damit werden zwei Dinge klar: Erstens, ohne die Patientin, ihre Innensicht und ihre aktive Mithilfe kann es überhaupt keine sinnvolle Medizin geben. Und zweitens: Sehr viele Faktoren, die für unser Wohlbefinden entscheidend und grundlegend sind, sind in der Medizin nicht im Angebot. Darum ist es so wichtig, dass ich die Grenzen der Medizin kenne und der Patientin gegenüber ehrlich ausdrücke. Im besten Fall versuche ich ihr zu helfen, sich selbst besser kennenzulernen, mehr und mehr zu wissen, was sie braucht und will, und ihr Leben zunehmend danach auszurichten.
Qualität in der Medizin – an der Schwelle zur Postmoderne
Von Bruno Kissling
Unsere moderne Medizin mit ihrer hohen technischen Qualität entfernt sich vom Menschen. Eine postmoderne Medizin sucht nach einer Verbindung von medizinisch-technischen Möglichkeiten und den persönlichen Bedürfnissen des Patienten.
Seit dem Beginn meines Medizinstudiums 1969 habe ich als Hausarzt ein halbes Jahrhundert faszinierender medizinischer Entwicklung miterlebt. Immer unterwegs mit dem Bewusstsein und dem Streben nach Qualität in der Medizin.
Rückblickend waren die medizinischen Möglichkeiten in den Arztpraxen und Spitälern anfänglich bescheiden – dafür aber nahe am Menschen. Behandlungen im Krankenhaus wirkten in erster Linie durch klinische patientennahe Beobachtung, Pflege und Betreuung. Dies brauchte Zeit und oft lang dauernde Spitalaufenthalte. Patienten mit Herzinfarkt mussten vor der Ära von Bypass-Operationen und Stents sechs Wochen ruhig liegen, oft blieben ihre Herzen dauernd geschwächt. Patienten mit Hirnschlag waren vor der Ära von Gefäßkathetern und notfallmäßiger medikamentöser Auflösung des gefäßverschließenden Blutgerinnsels wochenlang im Spital, manchmal blieben sie lebenslang gelähmt und pflegebedürftig. Betreut wurden sie zu Hause zusammen mit dem Hausarzt. Professionelle spital-externe Pflege sowie Alters- und Pflegeheime kamen erst allmählich auf. Gut, dass dies heute nicht mehr so sein muss.
Schlag auf Schlag folgten neue wissenschaftliche Erkenntnisse sowie wirksamere und verträglichere diagnostische und therapeutische Möglichkeiten: Medikamente, technische Interventionen, Operationsmethoden, Untersuchungsverfahren, analytische Nachweismethoden, Bildgebungen, Präventionen ... Diese hoch technologischen Entwicklungen ließen früher unheilbare Krankheiten heilen, in ihren frühesten Stadien diagnostizieren, manchmal schon deren Vorstadien oder Risikokonstellationen erkennen und vorbeugend beeinflussen.
Zu diesen beeindruckenden Erfolgen gibt es Kehrseiten: Die medizinischen Möglichkeiten fördern die Angst, etwas zu verpassen. Sie führen zu hohem Druck, Gesunde möglichst früh auf Krankheitsrisiken zu untersuchen. Wissenschaftliche Daten zeigen, dass dieses intensive Tun Gesunde fälschlicherweise zu Kranken machen kann, mit schweren Konsequenzen für die Betroffenen: unnötige weitere Abklärungen, Therapien, Verlaufskontrollen, psychologische Folgen, Verschwendung von finanziellen und personellen Ressourcen. Wir sind uns dieser Risiken zu wenig bewusst.
Die phänomenalen Bildgebungen und Analysen führen dazu, dass viele Ärzte zuerst das Bild oder Laborresultat studieren und sich erst danach dem Patienten zuwenden, ihn anschauen und untersuchen. Hospitalisierte Patienten werden innert zwei bis drei Tagen routinemäßig durch »alle diagnostischen Maschinen« geschleust. Die verantwortlichen Assistenzärzte sind zugedeckt mit der Organisation von Untersuchungen, Auswertung von Daten und Schreibarbeit. Es bleibt ihnen kaum Zeit, den Patienten als Person mit seinen Bedürfnissen, Zielen, Erwartungen und Fragen wahrzunehmen. In dieser techniklastigen Medizin geht der Kranke verloren.
Was ich mir von einer postmodernen Medizin wünsche: eine sich immer weiterentwickelnde, wissenschaftlich basierte Medizin und sehr gut ausgebildete, vertrauensvolle Ärztinnen und Ärzte mit einer hohen kommunikativen Kompetenz – und Zeit für mich als Patient. Meine Ärztin informiert mich, und gemeinsam entscheiden wir, was mit Blick auf meinen jeweiligen persönlichen Lebenskontext und meine Ziele sinnvoll ist, was wir tun oder lassen wollen. Je nach Situation werden wir uns für intensive technische oder medikamentöse Maßnahmen entscheiden. Eines Tages aber werden wir, in Ruhe und Gelassenheit, meinen Weg zum Lebensende gestalten.
Bildnachweis: links: © Lilo Bircher; rechts: © Andreas Fahrni
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