»O wie schwer ist das Schreiben: Es trübt die Augen, quetscht die Nieren und bringt zugleich allen Gliedern Qual. Drei Finger schreiben, der ganze Körper leidet.« – Verzweifelte Randnotiz eines anonymen Schreibers bei der Herstellung der Abschrift eines Rechtsbuches in einem Scriptorium des 8. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung.
Es gibt zu denken, dass die beschriebenen Beschwerden ziemlich genau auf die Folgen von heutiger Computerarbeit zutreffen und sich in puncto Berufsrisiko bei der Bürotätigkeit ganz offensichtlich seit weit über tausend Jahren nicht viel verändert hat. Die dem Zitat zugrunde liegende Tatsache, dass man damals etwas ganz einfach nicht lesen konnte, wenn es niemand zuvor von Hand auf ein Papier geschrieben hatte, erscheint angesichts dieser Aktualität hingegen vollkommen aus der Zeit gefallen.
Wir befinden uns nicht mehr nur einfach im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit von Text-, Bild- und Tonkunst. Seit einigen Jahren gibt es die Möglichkeit der sofortigen, netzbasierten Verbreitung in unbegrenzter Anzahl – die auf die Spitze getriebene Reproduzierbarkeit ist alltäglich geworden. Doch ist es noch gar nicht so lange her, dass das Kopieren von Inhalten mit erheblichem Aufwand verbunden war: Menschen der nicht mehr ganz jungen Generation erinnern sich zumindest an den Spiritusgeruch der Matrizendrucker und die von Abzug zu Abzug immer unleserlicher werdende Schrift ...
Johannes Gutenbergs Erfindung, die es ermöglicht hat, aus einem Buch zwei Bücher zu machen, ohne sie abzuschreiben, ist unbestrittenermaßen ein Meilenstein der Kulturgeschichte. Das war vor über 500 Jahren. Deutlich weniger lange ist es her, dass man keine Musik hören konnte, die nicht zeitgleich und in Hörweite gespielt oder gesungen wurde. Die ersten phonografischen Aufzeichnungen auf Wachswalzen gab es Ende des 19. Jahrhunderts, Anfang des 20. Jahrhunderts war mit dem Durchbruch der Schellackplatte das Hören von Musik-Aufnahmen zum ersten Mal im Privathaushalt möglich.
Auch wenn bereits kurz nach Gutenbergs Erfindung sein Prinzip der beweglichen Lettern auf Noten einfacher Sakralmusik angewendet wurde, sollte es fast bis zur Jahrtausendwende dauern, bis ein praktikables System entwickelt worden war: Für eine Notenschreibmaschine hatte kein Geringerer als Arnold Schönberg 1909 eine Patentschrift eingereicht – realisiert wurde das Projekt nie. Notenschrift ist diesbezüglich offenbar sehr viel komplexer als Buchstabenschrift.
Wenn Menschen musizieren, ist es oft nötig, aus der Partitur spezifische Kopien (sogenannte Stimmauszüge) herzustellen, beispielsweise für die Pulte der einzelnen Orchestermitglieder. Bis man selber am Computer Notensatz betreiben oder gar aus einer Partitur automatisiert Stimmauszüge machen konnte, dauerte es bis in die 1990er-Jahre. Das heißt, auch in Zeiten, als kein Student mehr eine handgeschriebene Seminararbeit hätte abgeben dürfen und die Audio-CD sich bereits erfolgreich auf dem Markt durchgesetzt hatte, wurden die meisten Musiknoten noch immer von Hand angefertigt. Es ist angesichts dieses Anachronismus nicht verwunderlich, dass es auch heute noch viele Komponistinnen und Komponisten gibt, die sich nicht mehr umstellen wollen und also wenn es darum geht, Noten zu drucken, jemanden zur Abschrift brauchen.
In der Komplexität liegt auch der Reiz der Arbeit. Die heutige Notenschrift ist nicht einfach das Ergebnis einer geradlinigen jahrhundertelangen Optimierung, und es gibt, ähnlich wie im Umgang mit der Orthografie bei den Mundart-Texten, Varianten zu diskutieren, die auch mit Vorlieben und individueller Prägung zu tun haben. Die abgedruckten Chansons im Buch »’s fehlt no es Lied« von Daniel Fueter, mit Texten diverser SchriftstellerInnen, sind über vierzig Jahre hinweg entstanden und – getreu ihrer Bühnenmusik-Herkunft – naturgemäß sehr unterschiedlich und eigenwillig. Dadurch ergeben sich editorische Fragen: Was soll vereinheitlicht werden? Was unterschiedlich belassen? Die große musikalische Heterogenität reicht von Liedern einfachster Melodik und Harmonik über Chansons mit ungewöhnlichen Modulationen und solche mit »vielen schwarzen Punkten« in der Klavierbegleitung bis hin zu Sprechgesang. Bereits für melodramatische Umsetzungen, die Musik und gesprochene Sprache verbinden (wie sie im Buch beispielsweise in Fueters Umgang mit Tucholsky-Texten zu finden sind), gerät der Computer an seine Grenzen, und es ist »kreativer Missbrauch« im Umgang mit dem Notensatzprogramm gefragt. So zeigt es sich, dass manche Dinge, die sich mit Papier und Bleistift kinderleicht aufzeichnen lassen, am Computer manchmal in eine regelrechte Bastelei ausarten.
Bei »Forelle Stanley«, Daniel Fueters Kammeroper, die ich 2011 inszenieren durfte, stand ich als Regisseur im Programmheft. Doch auch die »zudienende« Doppelfunktion als Kopist möchte ich nicht missen. Für mich war es eine wichtige Erfahrung, bei einer Uraufführung vor der ersten Probe im wahrsten Sinne des Wortes jede einzelne Note zu kennen. Ich möchte das keinesfalls zum Opernregie-Dogma erheben, aber ich kann es allen Kolleginnen und Kollegen wärmstens weiterempfehlen.
Die eingangs erwähnten möglichen Qualen beim Abschreiben haben auch dazu geführt, dass sich Abschreibarbeiten als Bestrafung eignen und in der Schule eine unheilvolle Tradition haben. Ich erinnere mich gut daran, wie ich als Kind mit tintenblauen Fingern seitenweise Sätze sinnlos untereinanderschreiben musste und die Herausforderung für meine Eltern darin bestand, dass nicht meine Tränen über die Abschreibaufgabe diese verderben und dann zu neuen Wuttränen führen, die den nächsten Anlauf verunmöglichen ...
Auf der anderen Seite hat das Abschreiben große Kunstfertigkeiten hervorgebracht, man kennt beispielsweise sogenannte Initialen aus der Zeit des eingangs zitierten Schreibers – aufwändig gestaltete erste Buchstaben am Anfang eines Kapitels. In der Musik sind es zum Beispiel Erik Saties kunstvolle Notenhandschriften, mit denen er (etwa in »Sports et divertissements«) die Grenze zur bildenden Kunst überschreitet.
Von solchen Ansprüchen ist meine Arbeit natürlich weit entfernt. Es geht um eine schlichte Gestaltung und nicht darum, dem Ganzen seinen Stempel aufzudrücken. Sie muss schön, aber nicht umständlich sein und ist vom Denken an die musikalische Praxis geprägt: Was ist wichtig? Was ist übersichtlich? Was ist praktikabel? etc.
Ich muss mich sicher nicht verstecken mit der Ansicht, dass das gleichmäßige Ausrichten von Legatobögen, Dynamikzeichen und Taktbreiteneinstellungen dabei nicht zu den spannendsten Tätigkeiten zählt – sondern die Gespräche mit dem Komponisten, die gemeinsamen Überlegungen zur Auswahl. Trotzdem gehört diese Arbeit einfach dazu, genauso wie bei der Gestaltung eines Textes. Schließlich würde weder Saskia Nobir, die dieses Buch mit größter Sorgfalt gestaltet hat, noch irgendeine andere Buchgestalterin auf der Welt auf die Idee kommen, ihre Arbeit wäre überflüssig, weil man ja auch ein Worddokument in Arial 12 Punkt abdrucken oder verschicken könnte und die »Infos« trotzdem erhalten bleiben. Inhalt und Form sind nicht voneinander zu trennen.
Das hat sicher auch mit einem Berufsethos, mit Tradition, ästhetischem Empfinden, einem erlernten typografischen Handwerk zu tun. Entscheidend aber ist die Überzeugung, dass diese Sorgfalt Einfluss auf die Leserschaft hat und sich im besten Fall ein Teil dieser Sorgfalt ganz selbstverständlich auf die Interpretinnen und Interpreten überträgt. Ich jedenfalls bereite mich schon jetzt darauf vor, nicht allzu wütend auf mich zu werden, wenn ich den ersten Fehler finde. Auf über 200 Notenseiten keinen fehlenden Bogen, keinen Abstand zu viel im Text – das ist unmöglich; auch wenn mit dem Computer gearbeitet wird, bleibt das Ergebnis von Menschen gemacht: Ein handgefertigtes Produkt im digitalen Zeitalter.
Bildlegende: rechts: Der Regisseur, Komponist und Arrangeur Philip Bartels. © Lothar Opilik
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