Dr. Uwe Degreif, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Museum Biberach, ist einer der wenigen Konservatoren, die sich bereits mehrfach dezidiert zu der Erwartungshaltung gegenüber Museen geäußert haben. Diese seien quasi in die Pflicht genommen, Nachlässe von Künstlern aufzunehmen, zu archivieren und öffentlich zugänglich zu machen.
FJS: Herr Dr. Degreif, was sind Ihres Erachtens die Kernaufgaben eines Museums?
UD: Vor einer Generation hätten die meisten von uns wohl geantwortet: Sammeln, Bewahren, Erforschen und Ausstellen. Inzwischen gehört Vermitteln dazu und immer stärker auch das Bekanntmachen. In Zukunft werden auch Kenntnisse des Auf- und Ausräumens gefordert sein, denn man darf nicht die Augen davor verschließen, was in der Vergangenheit alles eingelagert wurde.
FJS: Es gab Zeiten, da gelangten selbst Nachlässe lokaler Künstler problemlos ins Museum; heute reicht es kaum mehr aus, ein überregional bedeutender Künstler zu sein. Ist das Museum überhaupt noch der richtige Adressat für ein Nachlassbegehren?
UD: Manche Nachlässe gelangen immer noch problemlos in die Magazine, weil sie eine kostengünstige Möglichkeit darstellen, die Sammlung zu erweitern. Natürlich ist das städtische Museum immer noch ein richtiger Adressat, weil es die Verbindung von Werkentstehung und Lebensort verkörpert. Aber innerhalb dieser Institution vollziehen sich deutlich Veränderungen. Die Magazine sind voll, und die Gegenwart drückt die vorangegangenen Epochen in den Hintergrund, manchmal sogar glatt an die Wand. Das 20. Jahrhundert hinterlässt eine solche Masse an Kunstwerken, dagegen sind vorangegangene Epochen wehrlos. Dem muss man begegnen, denn die Folgen zeigen sich rasch.
FJS: Können Sie ein Beispiel nennen?
UD: Das Museum Biberach verwahrt in seiner Sammlung mehrere Nachlässe, darunter zwei aus den Jahren 1905 bzw. 1906. Sie stammen von ehemals bedeutenden Tiermalern – Anton Braith und Christian Mali. In den seither vergangenen rund hundert Jahren wurden maximal 20% der ungefähr eintausend Werke für Ausstellungen, Publikationen etc. verwendet. Der Rest ruht in klimatisierten und versicherten Magazinen und ist nahezu ohne Wert – für die Forschung ebenso wie für das Ausstellen. Wäre dieser Bestand nicht in unser Museum gelangt, keiner würde ihn vermissen.
»Einige Perlen, viele Kieselsteine«
FJS: Aber man liest doch immer wieder, dass der Wert eines Nachlasses durch die Museumsaufnahme erhöht werde. Ist dem nicht so?
UD: Der Fehler beginnt aus meiner Sicht damit, dass gegenüber den Nachlassverwaltern qua Institution ein Versprechen gegeben wird, dass die Hinterlassenschaften durch die Nobilitierung des Museums oder des Nachlassarchivs eine Aufwertung erfahren könnten. Mir ist bislang kein Œuvre bekannt, das durch die Erhaltung in einer Museumssammlung eine signifikante Aufwertung erfahren hätte. Allenfalls dadurch, dass sich eine private Galerie oder ein Verein intensiv darum gekümmert hat. Die Regel ist: Hat der Künstler zu Lebzeiten keine Bedeutung erlangt, so wird er dies mit seinem Ableben mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auch nicht erreichen. Der berühmte van-Gogh-Effekt, zu Lebzeiten verkannt, nach dem Tod ein Superstar, der ist aus meiner Sicht ein Phänomen des 19., nicht des 20. Jahrhunderts. In unserer Zeit steht doch fast alles im Licht, was sich irgendwie künstlerisch artikuliert.
FJS: Um nochmals auf den Umfang des Nachlasses zurückzukommen: Sind, um beispielsweise die Entwicklung Picassos oder Ernst Ludwig Kirchners nachzuvollziehen, nicht alle ihre Werke von Interesse?
UD: Niemand schaut auf das künstlerisch Halbgelungene oder den x-ten Entwurf. Diese mögen bei Picasso oder Kirchner von Interesse sein, für fast alle Künstler, die nicht in der Champions-League spielen, tut es eine Auswahl. Generation für Generation gelangen weitere Bestände in die Sammlungen, die Hinterlassenschaften weiterer verstorbener Künstler wollen bearbeitet und ausgestellt werden. Die vorhandenen Bestände werden dadurch nicht wertvoller. Die Hoffnung, dass in ferner Zukunft ein vergessener Künstler wieder ans Licht gezerrt wird, die kann man getrost vernachlässigen. Künstlernachlässe in Museumsmagazinen sind Särge de luxe. Es braucht eine strenge Auswahl und eine gute Pflege – so verstehe ich den Umgang mit Nachlässen. Nicht nur die Museen und Galerien sind an qualitativ guten Werken interessiert, auch die Wissenschaft arbeitet nur mit ihnen.
FJS: Sie haben bei verschiedenen Gelegenheiten an die Eigenverantwortung der Kunstschaffenden appelliert, sich rechtzeitig um ihr Werk zu kümmern. Was raten Sie ihnen?
UD: Ich halte es für eine fachliche und emotionale Überforderung, den Erben die Entscheidung über den Nachlass zu übertragen. Künstler sollten ihre Nachfahren darauf vorbereiten, was an Aufgaben auf sie zukommt. Sie können empfehlen, an wen sie sich wenden sollen, was aus ihrer Sicht erhaltenswert ist und was den Weg alles Irdischen gehen kann. Auch wie sie sich finanziell engagieren sollen und wo die Grenzen liegen. Künstler sollten eine Auswahl treffen und Zusammenhänge innerhalb ihres Werkes benennen, die nur sie kennen.
FJS: Fehlt da nicht der unbestechliche Blick von außen?
UD: Selbstverständlich wird diese Auswahl nicht identisch sein mit derjenigen eines wissenschaftlichen Mitarbeiters, darum ist eine Übernahme immer auch Verhandlungssache. Diese Differenzen erweisen sich aber oft als gering. Der Streit bezieht sich meist auf den Umfang der Übernahme und um die Einwilligung, dass nach 25 bis 30 Jahren das Übernommene einer erneuten strengen Begutachtung durch das Museum unterworfen und der Sammlungsbestand gegebenenfalls ausgedünnt werden darf.
FJS: Ein künstlerischer Nachlass umfasst durchschnittlich 3000 Werke. Was raten Sie Angehörigen von Künstlern, wenn sie plötzlich mit einem ganzen Nachlass konfrontiert sind?
Sie sollen sich als Ziel setzen, zwischen 5 und 10 Prozent zu erhalten. Wenn ihnen dies gelingt, dann dürfen sie sich herzlich freuen und haben ihr Bestes gegeben. Das sind immer noch 300 Werke, die auf eine oder verschiedene Sammlungen verteilt werden, das ist eine ungeheure Menge. Der Versuch, Vollständigkeit anzustreben, bedeutet eine emotionale und meist auch finanzielle Überforderung, schließlich verbleiben die Werke weiterhin bei den Erben und müssen von diesen bis zu einer endgültigen Lösung verwahrt werden, was mit Kosten verbunden ist. Ein Teil der Werke passt noch in einen Graphikschrank, aber wie sieht es mit den Skulpturen und Installationen aus?
FJS: Wie sollen die Erben vorgehen?
Aus Erfahrung weiß ich: Jeder Nachlass enthält einige Perlen und viele Kieselsteine. Warum? Weil die guten Werke zu Lebzeiten verkauft wurden. Sie haben das Renommee des Künstlers begründet und den Preis für seine Werke etabliert. Kein Künstler kann einen Großteil seiner herausragenden Werke lange zurückhalten, schließlich muss er oder sie davon leben. Worüber hier zu reden ist, das ist jener Teil, der beim Künstler verblieben ist. Ihn haben die Erben als Nachlass übertragen bekommen. Ich rate dazu, diesen zu portionieren und auf verschiedene Sammlungen zu verteilen. Darin sehe ich eine größere Chance, als alles auf eine Karte zu setzen. Die Erben sollten sich die Möglichkeit eröffnen, dass unterschiedliche Bearbeiter mit unterschiedlichen Perspektiven ihre Aufmerksamkeit auf ein Œuvre richten. Der Rest gehört auf den Markt und gegebenenfalls auf den Müll. Dadurch wird der Preis fallen, sofern noch einer vorhanden ist, aber die Stabilisierung des Marktwerts darf keine Rolle spielen.
FJS: Dann stellt sich zum Schluss die Frage: Gibt es Ihrer Meinung nach eine Methode oder einen Parameter, nach denen die Nachfahren das Werk ordnen sollen?
Ich sehe vier Gruppen: Zum einen gibt es sehr gute Werke, die der Künstler zu Lebzeiten nicht verkaufte, die er immer um sich haben wollte, und die er auf Ausstellungen gegeben hat. Sie bilden die erste Gruppe, die sogenannten »A-Werke«. Die Nachkommen wissen meist, um welche Werke es sich handelt. Der Künstler hat diese Arbeiten immer wieder hervorgeholt und sich positiv darüber geäußert, hat sie für Katalogabbildungen vorgesehen, oder sie hingen viele Jahre lang in seinem Atelier. Man könnte sagen, in diesen Werken verdichtet sich sein künstlerisches Anliegen. Sie stammen aus unterschiedlichen Schaffensphasen, ihr Kern sind Werke aus der Anfangszeit. Für diese Auswahl braucht es auch die Wissenschaftler und Vertreter der Institution.
Die Gruppe »B« bilden eine größere Anzahl guter Werke aus der Hauptschaffenszeit. Sie könnten von den Nachlassverwaltern potentiell verkauft werden, werden aber für künftige Ausstellungen zusammengehalten, um das Œuvre jederzeit angemessen repräsentieren zu können. Die Gruppe »B« ist zahlenmäßig größer als die Gruppe »A«, umfasst aber erfahrungsgemäß einen kleineren Zeitraum.
Die »C-Werke« sind die umfangreichste Gruppe. Dazu zählen weniger gelungene Arbeiten, Variationen, Entwürfe, Werke, die nicht zu Ende geführt oder überarbeitet wurden. Sie fügen den Informationen der Gruppen »A« und »B« nichts Wesentliches hinzu.
Zur Gruppe »D« zählen Mappen mit schriftlichen Notizen und Dokumenten. Es sind Fotos, persönliche Erinnerungsstücke, Zeugnisse, Ordner mit Briefen, mit Korrespondenzen und Ausstellungsbesprechungen.
Sie geben Auskunft über die familiären Beziehungen, über die Art zu leben, darüber, wie der Künstler in das städtische Geschehen oder in Verbände eingebunden war.
Von Interesse für spätere Generationen sind aus meiner Sicht die Werke der Gruppen »A« und »D«. Sie gilt es in den Blick zu nehmen. Der Begriff »Nachlass« ist dann lediglich für die Erben relevant, für die öffentlichen Sammlungen geht es um Sammlungsgut.
Auszug aus »After Collecting«
Bildlegende: links: Dr. Uwe Degreif. © Vera Romeu; rechts: Nachlass Christian Mali im Museum Biberach. © Museum Biberach
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