Um gleich zu Anfang eine der ganz Großen (und eine meiner Heldinnen zu bemühen) – Joan Didion stellt in ihrem gleichnamigen Buch fest: »Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben.«
Die ersten wirkungsvollen Geschichten werden uns von Erwachsenen erzählt und vorgelesen, doch je verständlicher wir selbst diese geheimnisvollen Zeichen in einen uns einleuchtenden Zusammenhang bringen können, desto größer ist die Verzauberung über die Welten, die auf Papier beschrieben werden und in unseren Köpfen eine dreidimensionale, unnachahmliche Lebendigkeit entwickeln. Bücher leuchten Winkel aus und bringen Tatsachen ans Licht – weshalb sie oft genug verboten oder gar vernichtet wurden; sie liefern Fakten, die uns sonst verborgen blieben – und bedrohen damit unrechtmäßig zusammengetragene Imperien und Diktaturen; ihre einzigen Risiken und Nebenwirkungen – Bücher machen uns zu Wissenden und bahnen neuen Ideen einen Weg.
Bücher halten Gedanken fest und geben ihnen eine Gegenwart, die oft in die Zukunft weisen und die bereits eine Vergangenheit in sich tragen – wie beispielsweise Harriet Beechers Roman »Onkel Toms Hütte« aus dem Jahre 1852, der den erklärten Gegnern der Sklaverei überzeugende Argumente gegen die menschenverachtenden Lebensumstände der Schwarzen lieferte. Der einflussreiche Essayist und Historiker Thomas Carlyle (1795–1881) hinterließ das bis heute stimmige Zitat: »In Büchern liegt die Seele aller gewesenen Zeiten.« Vielleicht ist es gerade diese tiefe Wahrheit, die uns zu Büchern greifen lässt, die vom Vater an den Sohn und von der Tante an die Nichte weitergeben werden und die wir nahestehenden Menschen zur Lektüre empfehlen – was die Tatsache belegt, dass gute Bücher zeitlos sind und kein Verfalldatum kennen.
»Beim Lesen guter Bücher wächst die Seele empor«, konstatierte Voltaire. Und wer schon einmal selbst diese unvergleichliche Erfahrung gemacht hat, dass ihn ein Buch ganz tief zu sich selbst brachte und er beim Umblättern der letzten Seite eine beglückende Gewissheit empfand, dass das Leben noch einiges mit ihm vorhat, der wird dem französischen Aufklärer vorbehaltlos zustimmen.
Was einst »in Stein gemeißelt« wurde, fand seit der Erfindung des Buchdrucks rasend schnell Verbreitung und konnte jederzeit als Beweis angeführt werden – Alexander Solschenizyns »Der Archipel Gulag« erlaubte 1973 erstmals einen Einblick in das stalinistische Justiz- und Lagersystem und sorgte weltweit für Aufruhr; der Nobelpreisträger von 1970 wurde kurz nach der Veröffentlichung 1974 aus der Sowjetunion ausgewiesen.
Kaum einem anderen Medium gelingt es, uns fremde Welten so nahe zu bringen. Wir reisen im Kopf mit Bruce Chatwin durch die Welt, entdecken mit Joseph Conrad das »Herz der Finsternis«, wir stellen uns in »Fahrenheit 451« an die Seite des tapferen Feuerwehrmanns Guy Montag – die Reihe der Werke, die uns prägen, die uns zum selber Denken anregen und die uns im Gedächtnis bleiben, ließe sich beliebig verlängern. Auch wenn stets eingewendet wird, ein Bild sage mehr als tausend Worte, so bleibt doch die Feststellung, dass man auch ein Bild »lesen« muss, um zu verstehen, was es uns zu sagen hat.
Dass Bücher eine heilsame Wirkung besitzen, wird niemand ernsthaft bestreiten, öffnen sie uns doch den Zugang zu Wissen und Erfahrungen – und sollten eigentlich von Ärzten mit einem Facharzttitel in Literatur verschrieben und von den Krankenkassen übernommen werden. Als wahre Meister seien in dieser Hinsicht Paul Watzlawik und Oliver Sacks angeführt, deren Worte den Horizont von Millionen Menschen auf der ganzen Welt maßgeblich erweitert haben. Und wer die »Anleitung zum Unglücklichsein« von 1973 einmal gelesen hat, wird sich stets daran erinnern, wenn er sich beim Jammern über das ihm böse gesinnte Schicksal selber auf die Schliche kommt.
Mit seiner bildreichen Sammlung von Patientengeschichten unter dem Titel »Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte« vermittelte Oliver Sacks nicht nur Verständnis für das Innenleben von Menschen mit neuro-psychiatrischen Störungen, die aus der sogenannten Normalität gefallen sind, es gelang ihm damit auch, das Thema »gesellschaftsfähig« zu machen. Dass daraus gar eine Oper entstand, ist beredtes Beispiel dafür.
Als Vorreiterin dieses Genres darf Joanne Greenberg nicht fehlen, die 1964 den stark autobiografischen Roman »Ich habe dir nie einen Rosengarten versprochen« veröffentlichte. Darin erzählt sie die Geschichte einer Jugendlichen, die an Schizophrenie erkrankte und die von der in der Schizophrenie-Behandlung wegweisenden Therapeutin Frieda Fromm-Reichmann auf dem Weg der Heilung begleitet wurde.
Mit einem guten Buch zur Seite können wir uns den großen Fragen des Lebens zuwenden, denn in ihnen finden wir einen reichhaltigen Schatz, den talentierte, ja begnadete Dichter und Denkerinnen für uns gehoben haben. Und nicht umsonst steht in den Werken von Dostojewski, Goethe, Thomas Mann oder auch der Bibel der Stoff, aus dem auch das eigene Leben gewoben ist. Doch braucht es nicht nur die großen Namen aus vergangener Zeit, gerade heutige Autoren teilen mit uns Lesern ihre Gedanken über aktuelle Themen, selbst wenn sich diese am Ende als ewig gültige erweisen. Ob wahre Freundschaft und Liebe, ob glückliche Zufälle oder verpasste Chancen, Leben und Sterben, ob Neid und Zerstörung oder Demut und Aufrichtigkeit – für jede wirklich relevante Frage finden sich kluge Bücher von Menschen, die eine weiterführende, das eigene Denken und Handeln inspirierende Antwort anzubieten haben.
Dies spiegelt sich nicht zuletzt in den Listen über Bücher, die ehrbare Medien immer mal wieder erstellen. »Die Zeit« erhob von 1978 bis 1980 eine Bibliothek der 100 Bücher und stellte je eines wöchentlich vor. Die BBC hatte 2003 ihre Zuschauer in großer Zahl abstimmen lassen und so eine Liste der 100 wichtigsten Bücher erstellt. Die französische »Le Monde« hat zunächst die 200 wichtigsten Bücher der Weltliteratur des 20. Jahrhunderts durch eine Expertenkommission bestimmen lassen und unter diesen dann eine Leserabstimmung über die 100 Bücher des Jahrhunderts durchgeführt. Interessant ist, dass auf allen drei Listen teilweise die gleichen Bücher respektive Autoren auftauchen, wenn auch auf unterschiedlichen Plätzen. Lässt sich daraus schließen, dass Deutsche, Franzosen und Engländer einen vergleichbaren Lesegeschmack haben? Möglicherweise. Vielleicht besteht jedoch die einzige wesentliche Aussagekraft darin, dass Bücher die Menschen bewegen. Und wer per se nicht viel von »Best of«-Listen hält, der möge sich zumindest den Spaß erlauben, die Listen im Internet anzuschauen und sich verblüffen zu lassen, wer dort zu finden ist. Und vor allem, wer fehlt.
Nicht selten verlangt es verlegerischen Mut, komplexen Themen einen Platz im Programm zu geben, vor allem dann, wenn es sich um die »letzten Fragen« handelt. Stellvertretend für viele sei auf eines dieser kostbaren Bücher an dieser Stelle hingewiesen: »Weil ich doch sterben muss«.
Die Autorin Ingeborg Rotach erzählt herzerwärmend von der etwa 12-jährigen Salome, die durch den Tod eines Klassenkameraden zutiefst verunsichert wird; es ist zugleich ein Buch vom Leben, das man wunderbar zusammen mit Kindern lesen kann. Eine ähnliche Leseerfahrung vermittelt die eingangs erwähnte Joan Didion mit »Das Jahr magischen Denkens«, darin berichtet sie davon, wie man mit einem tragischen Verlust umgehen und nach einer Weile dennoch das Leben bejahen kann.
Gute Autorinnen und Autoren sind geschickte »Ureinwohner von Hameln«, und wie gern lassen wir uns doch von ihnen einfangen! Bei einigen von ihnen erweisen wir uns lebenslang als glühende Verehrer, egal, ob das Innenleben ihrer neusten Bücher stets das hält, was auf dem Umschlag versprochen wird. Einer der Ersten, der mich derart in seinen Bann zog und trotz des elterlichen »Licht-aus«-Befehls zu nächtelanger Lektüre beim Schein der Taschenlampe verführte, hieß Karl May. Die Wirkung: Ich wollte tapfer und furchtlos sein wie Winnetous schöne Schwester Nscho-tschi; das hat nicht funktioniert – ich war hellhaarig und hatte zu viel Angst vor Pferden. Nachdem ich in einem Atlas der väterlichen Bibliothek die Geschichte von Atlantis entdeckt hatte, wollte ich dieses sagenumwobene Inselreich aufspüren, das wir Kinder im sechs Kilometer von Zuhause entfernten Baggersee vermuteten; daraus wurde nichts, weil meine Sehschwäche eine Brille verlangte, und beim Unterwasserkampf gegen übermächtige Seeungeheuer ist wohl nichts hinderlicher als Brillengläser von der Dicke einer Fanta-Flasche.
Danach änderte ich meine Taktik, oder vielmehr Herr Möthrath, Deutschlehrer an der Dürener St. Angela-Schule der Ursulinen, belohnte meinen ersten fantasievollen Aufsatz mit der Höchstnote und eröffnete mir damit die Möglichkeit, mir meine eigene Welt der Abenteuer zu formen, in der ich Gestalterin wie auch gleich noch Hauptakteurin sein konnte. Die Liebe erwies sich als dauerhaft und hält bis heute an, inzwischen habe ich gar einen Beruf daraus gemacht und widme mich als Verlegerin der Aufgabe, eine verlegerische Heimat für Autoren zu gestalten, damit ihre wichtigen Bücher zu relevanten Themen unserer Zeit ihre Wirkung entfalten können.
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