Eine Ikone ist in der ursprünglichen Bedeutung des griechischen Wortes das Bild oder Abbild einer realen oder imaginierten Wirklichkeit. Im engeren Wortsinn ist eine Ikone ein Kult- oder Heiligenbild, zumal im byzantinisch-orthodoxen Christentum. Wer eine orthodoxe Kirche besucht, entdeckt Ikonen sogleich, entweder an den Wänden oder aber auf beweglichen Ständern, wo sich in der Regel mit dem Kirchenjahr oder mit den Tagesheiligen verbundene Ikonen befinden, die für die Gläubigen besonders wichtig sind und vor denen sie oft niederknien oder sie in die Hand nehmend oder niederbeugend auch küssen. Ikonen sind jedoch auch in kunsthistorischer Hinsicht ein Sammelobjekt, vor allem wenn sie aus alter Zeit stammen und als »echt« gelten. Heute auf »alt gemachte« Ikonen bezeichnet man als Fälschungen. Bei Ikonen sind die Fälschungs- und Täuschungsmethoden inzwischen so raffiniert, dass es selbst für Kenner schwierig ist, Alter und Malstile zweifelsfrei festzulegen und zu bestimmen.
Für den Sammler ist die schiere Vielfalt von Bild-Motiven der christlichen Tradition ein entscheidender Ansporn, sich Ikonen zuzuwenden. Dabei weiß man, dass es auch im Christentum immer bilderfreundliche und bilderfeindliche Tendenzen gab. Seit dem Urchristentum gibt es Verbote bezüglich der Abbildbarkeit alles Göttlichen, zumal im Judentum und später ebenso im Islam, aber im Christentum – Christus ist Gott und Mensch zugleich – war die Abbildfähigkeit der menschlichen Gestalt Gottes nie ganz infrage zu stellen. Heute ist die Geschichte des Christentums so gut erforscht, dass wir alles über die Bilderfreudigkeit im Christentum, alle Reformationen und Aufklärungen überlebend, in westlichen und östlichen Traditionen erfahren kön-
nen. Die Geschichte europäischer Malerei ist ohne christliche Kunst schlicht undenkbar.
Meine Sammlerpassion für Ikonen, zumal aus griechischen und russischen Maltraditionen, hat in diesem Motivreichtum ihre eigentliche Begründung. Ein Sammler will diese Vielfalt in seiner über Jahrzehnte entstandenen und gewachsenen Sammlung gespiegelt sehen. Dabei ist es ihm dann gleichgültig, wenn sich wertmäßig darin sehr unterschiedliche Ikonen befinden. Eine künstlerisch weniger bedeutende Ikone kann ihm wegen ihres biblischen oder auf Heiligenlegenden beruhenden Motivs genauso wichtig werden wie ein aus einer bekannten Malwerkstatt stammendes Exemplar, das sich kunsthistorisch ohne Fehl und Tadel präsentiert. Jede private Sammlung ist im Gegensatz zu Museumssammlungen auch ein Spiegel der Geschichte ihres Sammlers.
Zur Geschichte der Kirchen- und Privatikonen gibt es inzwischen beinah ganze Bibliotheken von Fachliteratur. Wer sich einen ersten guten Überblick verschaffen will, kann beispielsweise das Buch »Faszination Ikonen« von Aloys Butzkamm konsultieren, das 2006 im Bonifatius Verlag in Paderborn erschienen ist. Hier findet man alles Wesentliche über kirchen- und kunstgeschichtliche Aspekte von Ikonen, über Typenvielfalt sowie über Material- und Maltechniken.
Ich wusste von der Liebe zu Ikonen meiner sogenannten »Zwillingsschwester«, der Künstlerin Rebecca Horn. Ich nenne sie so seit der Zeit unserer Bekanntschaft in den Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, weil sie am gleichen Tag und im gleichen Jahr wie ich, wenn auch in einem anderen Land, geboren wurde. Seit unserer ersten Begegnung sind wir befreundet und haben uns regelmäßig in Deutschland, auf Mallorca oder in Zürich getroffen. Nachdem ich ihr Werk in Ausstellungen in Europa und Amerika in allen Facetten ihrer Kunst kennengelernt habe, nenne ich manche ihrer gemalten Bilder »moderne Ikonen«.
Dabei erinnere ich mich an unsere gemeinsame Suche in Zürich bei Ikonenhändlern, bei denen sie ebenso wie ich traditionelle Ikonen orthodoxer Herkunft erworben hat. Rebecca Horn ist eine Künstlerin, für die eine meditativ-spirituelle Geisteshaltung als Hintergrund ihres gesamten Schaffens – Rauminstallationen und Filme eingeschlossen – absolut zentral ist.
Darum bin ich der Überzeugung, dass wir uns – bei allem Respekt für die Verehrung religiöser Menschen traditionellen Ikonen gegenüber – von diesem engeren Ikonenbegriff auch entfernen und zu einem Ikonenverständnis übergehen dürfen, bei dem wir jedes Bild oder Abbild, das uns bewegt und beschäftigt, ob gemalt oder plastisch gestaltet, aus alter oder aus neuer Zeit, als eine persönliche »Ikone« ansehen dürfen. Dies vor allem, weil wir in einem elektronischen Zeitalter leben, in dem Bildmanipulationen zur täglichen Erfahrung gehören und die Frage, was ist wichtig und was ist nichtig, sich als immer zentraler erweist. Denn letztlich wollen wir doch auch Abbilder der Wirklichkeit lieben, bewundern und sogar verehren dürfen.
Orte, an denen man Ikonen verehrt, sind oft zu Wallfahrtsorten geworden, an denen religiöse Menschen Trost und Stärke finden, auch wenn sie dort keine echten Wunder erfahren. Doch ist es nicht zumindest ein halbes Wunder, wenn religiöse und weltliche Ikonen uns dazu verhelfen, die Schönheit des Daseins neu zu erleben und zu empfinden. Darum ist die Antwort auf den Titel meines Textes nach meiner festen Überzeugung: Ja, wir brauchen Ikonen!
Bildunterschriften: Links: Die Himmelsleiter des Johannes Klimakos, nordrussische Ikone,17. Jahrhundert / Rechts: Rebecca Horn, Ikone mit Widmung an Iso Camartin. Beide Fotos: Julian Quentin, vibrations.ch
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