Dem Begriff der »Migrantin« haftet häufig eine negative Konnotation an. Die stereotypen Vorstellungen über eingewanderte Frauen treten tagtäglich auf: niedrig qualifiziert, bildungsfern, arm. Wir glauben sie zu kennen, die Migrantinnen, die in der Schweiz leben. Sie putzen in unseren Haushalten, pflegen in den Spitälern, hüten Kinder und betreuen Betagte, sitzen an den Kassen der Großverteiler, bedienen in den Restaurants, arbeiten im Unterhaltungs- und Sexgewerbe. In Medienberichten und anlässlich politischer Debatten begegnen uns Migrantinnen als Mütter mit kleinen Kindern, eher schlecht gebildet, der Landessprachen unkundig und patriarchalen Traditionen ihrer Herkunftsländer unterworfen.
Nicht zufällig werden erfolgreiche »weiße« Migrantinnen oft nicht über ihre Herkunft, sondern als Berufsfrauen über ihren Leistungsausweis definiert. Frau Professor R., Dozentin an einer Schweizer Hochschule (aus Frankreich), Frau Dr. M., Oberärztin an einem Regionalspital (aus Kroatien), Frau Y., Ingenieurin in einem renommierten Architekturbüro (aus der Türkei) oder Frau S., weltweit bekannte Musikerin (aus den USA) gelten gemeinhin nicht als »Migrantinnen«. Und trotzdem sind auch sie eingewandert und mussten sich mit den hiesigen Verhältnissen auseinandersetzen. Wie alle anderen Zugewanderten auch.
Sind also die Vorstellungen, dass Migrantinnen niedrig qualifiziert, bildungsfern und arm sind, falsch? Ja und nein. Viele Migrantinnen verrichten tatsächlich Arbeiten, die als schmutzig und anstrengend gelten und mit unattraktiven und unregelmäßigen Arbeitszeiten verbunden sind. Es gibt sie, die niedrig Qualifizierten, jene, die der Sprache ihres Wohnorts nicht oder nur teilweise mächtig sind, Migrantinnen, die gerade in der Lebensphase stehen, in der sie als Mütter für kleine Kinder zu sorgen haben, oder Frauen, die mit spezifischen traditionellen Geschlechterrollen ihrer Herkunftsgesellschaft konfrontiert sind.
Die gängigen Bilder, die in der Öffentlichkeit über Migrantinnen kolportiert werden, entsprechen jedoch nur teilweise der Wirklichkeit. Migrantinnen haben unterschiedlichste Biografien, verfügen sowohl über gute wie weniger gute Ausbildungen, sind auch in mittleren und hoch qualifizierten Berufen tätig, sprechen ausgezeichnet Deutsch, Französisch oder Italienisch und noch mindestens eine, wenn nicht zwei weitere Sprachen dazu, sind jung oder alt, befinden sich in verschiedensten Lebensphasen mit und ohne Kinder, orientieren sich an Weltbildern, die als traditionell, aber auch als modern bezeichnet werden können. Kurz: Migrantinnen sind Frauen wie Schweizerinnen auch.
Ein besonders weit verbreitetes Stereotyp ist das der Migrantin als Opfer. Im öffentlichen Diskurs und in der Politik, aber häufig auch in der Forschung werden Frauen im Migrationskontext oft ausschließlich als Opfer gesehen. Sie erscheinen als Problemfälle, unselbständig, passiv, abhängig und wenig integriert. Besonders häufig sind die Vorstellungen, dass Migrantinnen – im Gegensatz zu Schweizerinnen – durch die patriarchalen Traditionen und Strukturen ihrer Familien und Herkunftsgesellschaft unterdrückt würden.
Die ausschließliche Betonung des Opferstatus ist problematisch, weil er den Blick auf die Potenziale von Migrantinnen verstellt. Zahlreiche neue Forschungsarbeiten aus dem Bereich der Sozialwissenschaften zeigen auf, dass migrierende Frauen oft über sehr viel Tatkraft, über große Sozialkompetenz und Energie verfügen, die sie nicht zuletzt mit ihrem Migrationsentscheid und in der Migrationssituation unter Beweis stellen. Diese Kompetenzen werden durch die einseitige Betonung der Opferrolle unsichtbar gemacht, zum Nachteil der Migrantinnen.
Immer öfter wird die traditionelle Siedlungswanderung (definitive Auswanderung mit dem Ziel, sich für immer an einem anderen Ort niederzulassen) durch eine Existenzweise zwischen zwei Staaten abgelöst. Die neuen Transport- und Kommunikationsmöglichkeiten machen es möglich, an mehreren Orten sozial eingebunden zu sein und familiäre, ökonomische, politische und kulturelle Netzwerke grenzüberschreitend zu pflegen. Auch Migrantinnen leben immer häufiger in diesen transnationalen Lebensformen. Das kann bedeuten, dass Migrantinnen aus den Philippinen, die als Kindermädchen oder Krankenschwestern in Europa, Kanada oder in den Golfstaaten arbeiten, nicht nur ihren Lohn nach Hause schicken, damit die Kinder zur Schule gehen können, sondern dass sie zugleich täglich per Handy oder über Skype mit ihren Kindern in der Heimat in Kontakt sind und sie im Alltag begleiten.
Die Erkenntnisse zu Frauen in der Migration belegen es: Migrantinnen sind keineswegs nur den herkömmlichen, oft weiblichen Migrationsbiografien zugeschriebenen Arbeits- und Lebensumständen zuzuordnen. Die Lebenslagen von Frauen ohne Schweizer Pass sind mit jenen von einheimischen Frauen vergleichbar, selbst wenn sich für Migrantinnen in vielen Situationen schlechtere und schwierigere Lebensbedingungen feststellen lassen.
Ein unverstellter Blick auf die vielfältigen Realitäten eingewanderter Frauen ist dringend notwendig, um den jeweiligen Situationen migrierter Frauen angemessen Rechnung zu tragen. Im Bereich Bildung, Arbeitsmarkt, Integration, Migrationspolitik und Gleichstellung kann ein Perspektivenwechsel bei der Wahrnehmung von Migrantinnen dafür sorgen, dass – in Abkehr vom Opferdiskurs – dort angesetzt werden kann, wo Handlungsbedarf besteht: bei vermehrten Bildungs- und Weiterbildungsangeboten.
Simone Prodolliet ist Geschäftsführerin EKM, Eidg. Kommission für Migrationsfragen
Bildlegende: links: Ginette Huwiler, Haiti, Wirtin; mitte: Krishnabavani Sritharan, Sri Lanka, Tanzlehrerinv; rechts: Joanna Krawczyk, Polen, Deutschlehrerin. © Romeo Polcan
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