Im Haus Tribschen in Luzern waren ab 1866 Richard Wagner, Cosima und ihre Kinder für sechs Jahre zur Miete. Hier vollendete der Komponist nicht nur die »Meistersinger« und arbeitete an dem »Ring der Nibelungen«, hier entschied sich mit der Geburt von Siegfried und dank einem raffinierten Trick auch sein Erbe – mit weitreichenden Folgen.
Am 6. Juni um vier Uhr in der Frühe stürzt die Hebamme Vreneli freudig ins Treppenhaus und verkündet lauthals: »Ein Sohn ist da!« Die Geburt Siegfried Helferich Richards veränderte alles, das Denken Richard Wagners, das Denken Cosima von Bülows und die Zukunft ihrer beiden unehelichen Töchter Isolde und Eva. Wie fundamental, beschreibt Wagner Jahre später in seiner Brief-Rückschau an König Ludwig II. vom 9. Februar 1879: »Wie warf ich einst Alles von mir, was irgend als Andenken an mich übrig bleiben konnte! Eine kinderlose Ehe hatte dreißig Jahre angedauert: wem hätte ich dereinst [etwas] zu hinterlassen gehabt?« Der beim Juristen Charles Nuitter geäußerte Wunsch, die Erbschaft für seine illegitimen Mädchen Isolde und Eva vorzusehen, sie scheint wie weggeblasen. Die Begründung lieferte Wagner selbstverständlich postwendend nach: »Nun rief ich eines Morgens im Hause: ›Ein Sohn ist da!‹ Wie da mit einem Male die ganze Welt anders aussah! Die glückliche Mutter erkannte sogleich, dass all meine Vergangenheit und Zukunft einen durchaus veränderten Sinn habe: ›jetzt lebst du auch nach deinem Tode das Leben weiter, strebst und wirkst fort und fort.‹ Jetzt wurde auch jede Reliquie aufbewahrt: Briefe, Manuscripte, Bücher, die ich einst im Gebrauch hatte, jede Zeile, die ich je geschrieben, wurden aufgesucht und gesammelt; mein Leben immer sorgfältiger aufgezeichnet, von allen Orten, wo ich lebte, von den Häusern, die ich bewohnte, Abbildungen zusammengebracht. Der Sohn, so jung noch, soll, wann er zu männlicher Reife gelangt ist, genau wissen, wer sein Vater war.«
Ein Knabe also, ein Thronfolger: Nun war klar, dass die Beziehung zwischen Richard und Cosima legitimiert werden musste, damit Siegfried den Namen »Wagner« in die Lande würde tragen können. Die Mädchen spielten keine Rolle mehr. Patriarchal, dynastisch, das war die Botschaft. Für den Sohn wurde eifrig gesammelt und die Erbfolge bereitet. Um dies zu bewerkstelligen, war die Tribschener Gemeinschaft ziemlich skrupel- und rücksichtslos. Bereits neun Tage nach der Geburt Siegfrieds schrieb Cosima endlich den entscheidenden Brief an ihren Gatten Hans, in dem sie um die »öffentliche Trennung«, um die Scheidung bat, und zugleich um das Sorgerecht für die Kinder. Allerdings argumentierte sie konsequent nur mit ihren gemeinsamen Töchtern Loulou und Blandine, die Kinder aus ihrer Beziehung mit Richard werden mit keinem Wort erwähnt – die endgültige Trennung war eingeleitet. Wie vorausschauend im Haus Tribschen dabei gehandelt wurde, wird beim Blick in das erhaltene Luzerner Geburtsregister klar, wo Siegfried erst unter dem Datum vom 4. September 1870 eingetragen wurde, über ein Jahr nach seiner Geburt am 6. Juni 1869. Wie war das möglich?
Zwar existierte im Kanton Luzern die bürgerliche Gesetzgebung, aber die Geburtsregistrierungen nahmen bis 1876 weiterhin die kirchlichen Würdenträger, also Priester und Pfarrer, vor. Eva wird in Luzern fein säuberlich im katholischen Register mit Datum der Geburt am 17. Februar 1867 geführt – drei Tage später erfolgte die Taufe. Siegfried aber wird, auf den ersten Blick überraschenderweise, im reformierten Geburtsregister geführt. Doch korrespondiert nicht der Geburts-, sondern der Taufeintrag vom 4. September 1870 in der Abfolge mit den vor und nach ihm erfolgten Geburtseinträgen anderer Kinder. Siegfrieds Geburt wurde also kirchen- und zivilrechtlich ein volles Jahr lang verschwiegen, um ihn nach der am 18. Juli 1870 in Berlin vollzogenen Scheidung Cosimas und nach der am 25. August 1870 in Luzern erfolgten reformierten Eheschließung mit Richard als Sohn mit Namen »Wagner« eintragen und führen zu können! Siegfried bekam damit als erstes illegitimes Kind Richards den Namen und die Konfession seines leiblichen Vaters, und nicht den Namen und die katholische Konfession der Mutter und des juristischen Vaters, Hans von Bülow.
Die Eheschließung wie die Taufe wurden von Johann Tschudi, reformierter Pfarrer an der Matthäuskirche in Luzern, vorgenommen. Es war eine delikate Konstellation, denn die Matthäuskirche war erst am 30. Januar 1860 als erste reformierte Kirche überhaupt in der katholisch geprägten Innerschweiz gebaut worden, und zwar nur dank großer Spenden aus der gesamten übrigen Schweiz. Die Reformierten hatten große Probleme in der streng katholischen Innerschweiz, und sie waren weiterhin auf Geldgaben anderer angewiesen, um das Überleben zu sichern. Auch Richard Wagner hat bis zu Tschudis Tod jährlich eine »Beisteuer« von 50 Gulden gespendet, offiziell aus Dankbarkeit für die Trauung durch Pfarrer Tschudi, wohl aber auch für die zivilrechtlichen Korrektive im Fall von Siegfrieds Geburt und Namensgebung. Immerhin wurde Siegfried dank Tschudi zukunftsweisend als »eheliches Kind« von Richard Wagner und Cosima Liszt [sic] – ihr Ledigname – geführt, beim katholischen Ritus wäre das Baby unweigerlich schon innerhalb dreier Tage nach der Geburt getauft worden, wie dies zwei Jahre zuvor bei Eva der Fall gewesen war. Die Wagners wussten vom Luzerner Kirchenrecht und mussten unmittelbar nach der Geburt den Entschluss gefasst haben, Siegfrieds Geburt zu verheimlichen, indem die zivilrechtliche Registrierung verzögert wurde. Bis heute hält sich die Meinung, dass sich Richard und Cosima über die möglichen juristischen Folgen dieses Vergehens nicht im Klaren gewesen seien, was nicht stimmt.
Erst am 31. Oktober 1872, also über zwei Jahre nach der Trauung in der Reformierten Kirche Luzern, trat die bis zum Lebensende katholisch frömmelnde Cosima in der Stadtkirche Bayreuth zum Protestantismus über. Sie, die Tochter eines katholischen Abbé, nahm diesen Schritt auf sich, auch um Siegfried zu decken.
Siegfrieds Geburt war nicht nur die mentale Grundsteinlegung einer neuen Ära, sondern sie zog auch einen Willkürakt und juristischen Winkelzug nach sich, ein lamentables Aushebeln gültigen Rechts, das Richard Wagner verschuldete und wissentlich mittrug. Leidtragende waren Isolde und Eva, genetisch wie Siegfried die Kinder Richards, juristisch aber diejenigen von Hans, und das sollte auch für immer so bleiben. Es ist auch der Grund dafür, dass dem ersten Enkel Richard Wagners, Franz Wilhelm Beidler, aus der Ehe von Isolde und Franz Philipp Beidler, der Name des großen Komponisten versagt wurde. Fidi, wie Siegfried in der Familie genannt wurde, trug den Namen Wagners und besaß als einziger Wagner-Erbe die juristische Legitimation, während Isolde und Eva schon als Kleinkinder von Richard und Cosima bewusst von der Erbfolge ausgeschlossen wurden. Nun hatte Richard genetisch also drei Kinder, und Cosima hält die Verbindung von Richard mit Isolde, Eva und Fidi frohlockend im Tagebuch fest: »Sie [Eva] gleicht R. – mich freut es, in Evas Auge die Tiefe und Schärfe, in Loldis Blick die Extase, in Fidis den Witz von R.s Auge zu finden.« Ein Vater – drei Kinder, drei verschiedene charakterliche Facetten desselben verehrten Erzeugers.
Auszug aus »Die Beidlers«
Bildlegende: Cosima, Siegfried und Richard Wagner, 1874. Die Töchter Isolde und Eva fehlen. Es existiert keine Atelier-Fotografie mit der ganzen Familie. Privatbesitz
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