Reportagen führen an fremde Orte, zeigen neue Facetten der Welt auf. Der Journalist und Schriftsteller Max Dohner und Daniel Puntas Bernet (Herausgeber »Reportagen«) diskutieren über die Königsdisziplin des Journalismus. Was macht eine gute Reportage aus, wo liegen die Gefahren? Das Gespräch führte Felix Ghezzi.
Sie haben beide als Deutschlehrer gearbeitet, haben längere Zeit in Südamerika gelebt und sind erst danach in den Journalismus gelangt. Ist das eine gute Grundlage für das Schreiben von Reportagen?
Max Dohner: Ich würde dies absolut bejahen. Zur Begründung, weshalb ich meine erste Stelle als Journalist und Lokalreporter erhalten habe, sagte mir die Verlegerin: »Sie haben kein Diplom, keinen Uniabschluss, keinen gelernten Beruf. Aber wir denken, Sie haben in den fünf Jahren in Südamerika Lebenserfahrung gesammelt.« Das war das Kriterium – und das ist ein gutes.
Daniel Puntas Bernet: Ich würde zustimmen. Es muss aber nicht wie bei uns Südamerika sein, es kann irgendwo sein: reisen, rausgehen, die Fremde nicht nur anschauen, sondern auch dort leben. Erst dann lernt man andere Realitäten kennen.
Welches sind die wichtigsten Eigenschaften eines Reporters?
DPB: Meine Erfahrung aus etwa fünfzehn Jahren, in denen ich als freier und angestellter Redakteur und nun als Herausgeber von »Reportagen« tätig bin, ist, dass man sich für Menschen interessieren muss, deren Lebensentwürfe und Umstände. Zudem: Empathie, Demut, sich selbst zurücknehmen. Für mich sind gute Reporter diejenigen, bei denen ich spüre, da will es jemand wissen und da hat sich jemand wirklich in die Geschichte reingekniet.
Braucht es dazu viel Hartnäckigkeit?
DPB: Nein, nicht unbedingt, für die Auseinandersetzung ist Zeit viel wichtiger. Eine Geschichte ist eigentlich nie fertig. Ich kann drei Tage nach Damaskus gehen und etwas schreiben: Syrien 2019, wie geht es nach dem Krieg weiter? Ich kann drei Wochen dort verbringen – es kommt ein völlig anderer Text heraus. Ich gehe drei Monate hin, und der Text ist nochmals radikal anders.
MD: Die Wahrnehmung des Lebens erfolgt in Stufen, das Leben hat Schichten, beinhaltet Täuschungen, Mimikry. Es ist auch eine Art Spiel. Als Reporter muss man auf das Spiel des anderen eingehen. Dann merkt man, dass auf der Gegenseite etwas Ähnliches passiert. Man muss neugierig darauf sein, was in der zweiten, dritten Schicht des Gegenübers getarnt aufleuchtet.
DPB: Es kommt mir die Reportage »Random Family« der Amerikanerin Adrian Nicole LeBlanc von 2003 in den Sinn; ein eindrückliches Buch über die Bronx. LeBlanc recherchiert über Jahre hinweg. Als sie endlich das Gefühl hatte, sie habe die Geschichte zusammen, erlebte sie noch einmal einen tollen Abend mit einigen der Protagonisten, sie tranken und feierten. In den frühen Morgenstunden ging sie nach Hause und vergaß ihr Diktafon auf dem Clubtischchen. Die Jungs fanden es und erzählten aufs Band, wie sie wirklich ticken und dass sie, die Journalistin, bisher noch gar nichts begriffen habe – und schickten ihr das Aufnahmegerät. Dies gab der Geschichte natürlich eine neue Wende.
Wie kommen Sie zu Ihren Geschichten?
MD: Man hört ganz zufällig etwas, im Zug, im Café. Das muss überhaupt keine dramatische Sache sein. Manchmal kann es auch nur ein halber Satz sein, der zu einer Geschichte hinführt. Wenn ich das Gefühl habe, es tarne sich ein Muster hinter dem Ganzen, dann wird es für mich interessant. Die Muster hinter einer Geschichte sind das Interessanteste überhaupt – auch bei den Menschen.
DPB: In der Rolle als Chefredaktor bekomme ich viele Vorschläge von Autoren. Diese interessieren mich, wenn sie mehr als nur eine nette Geschichte sind, wenn sie auch etwas über unsere Gesellschaft aussagen. Zum Beispiel bot mir ein Autor eine Geschichte über die Miesmuschelzucht in Portugal an, Überfischung der Meere und die Umweltverschmutzung seien Themen. Das ist alles nicht neu. Aber dann sagte er die entscheidenden Sätze: Die portugiesische Fischerei war am Boden, einer dieser Fischer sei nach Frankreich in eine Muschelzucht gereist, nahm einen 50-kg-Sack Muscheln mit nach Portugal, wo er die Muscheln in den Fluss Tajo warf. Daraufhin breitete sich die Muschel derart aus, dass sie heute eine ökologische Plage sind, die aber gleichzeitig der lokalen Fischerei neuen Aufschwung verlieh. Die Geschichte ist deshalb so gut, weil sie ambivalent ist, und jeder von uns dann und wann Miesmuscheln isst.
Herr Dohner, wenn Sie an einen Ort wie den Walensee gehen, haben Sie schon ein gewisses Bild im Kopf?
MD: Nein, eben nicht. Es reicht das Gefühl, dass sich eine Kristallisation ereignen wird. Ich halte eine Art Wünschelrute rein und dann gruppieren sich Informationen, Menschen, Geschichten drum herum – noch ungeordnet, und ich verstehe auch lange nicht, wohin die Geschichte führen soll, bis sich dann irgendwann eine Idee für die Struktur entwickelt. Und dann kann ich die Geschichte schreiben.
Was ich fatal finde, ist, wie die »Spiegel«-Reaktion auf den Claas-Relotius-Betrugsfall* reagierte. In dem 17-seitigen Abschlussbericht der Aufklärungskommission gibt es einen Abschnitt, in dem sie über die Entstehung einer der gefälschten Geschichten berichten. Offenbar werden vom Gesellschaftsressort und von dem Autoren die Reportagen akribisch geplant, und gelegentlich werden die Personen wie in einem Filmcasting gesucht: Frau mit Kind, aus einem »verschissenen Land«, hat Hoffnung auf ein besseres Leben in den USA, will die Grenze mithilfe »eines Kojoten« überqueren, der natürlich Trump wählt. Diese »Filmcasting«-Planung ist genau das, was man nicht machen sollte.
DPB: Genau!
Susanne Schneider, die Textchefin des SZ-Magazins sagt über das Schreiben: »Denken Sie nicht an Ihren Chefredaktor, bilden Sie sich nicht ein, Sie seien Schriftsteller, seien Sie nicht verliebt in Ihren Stil. Am wichtigsten aber: Denken Sie allein an Ihren Leser.«
DPB: Das könnte von mir sein. Ich hatte sieben Jahre lang beim Schreiben im Wirtschaftsressort der »NZZ am Sonntag« immer einen guten Freund vor Augen, der keine höhere Bildung aufweist und auch nicht viel liest. Mein Anspruch war stets, dass er meine Texte versteht – alle andern würden es dann ohnehin tun.
MD: Ich bin eigentlich mit gar nichts von Susanne Schneiders Aussage einverstanden. An den Chefredaktor will man natürlich nicht denken, aber trotzdem gibt es Sachverhalte, bei denen man weiß, dass man sie nicht an ihm vorbei in die Zeitung bringt. Es gibt wenige Beispiele, aber es gibt sie: äußerer Druck durch Verleger, Chefredaktor und was »die Zeitung« so erwartet. Und dann: nicht Schriftsteller sein wollen: Das ist einfach Blödsinn. In der ganzen anglistischen Presse gibt es diesbezüglich überhaupt keine Schamgrenze. In den 1920er-/1930er-Jahren war jeder gute Journalist auch ein guter Schriftsteller.
DPB: Wenn ich dir zuhöre, stimme ich dir zu. Und trotzdem finde ich das Zitat richtig, weil ich es anders lese: Wenn Frau Schneider sagt, man solle nicht Schriftsteller sein wollen, lese ich daraus, es stehen nicht die brillanten Sätze im Vordergrund, sondern das, was ich sagen will. Und wenn man so schreibt, dann sind auch die Sätze ehrlich und besser, und am Schluss literarischer.
MD: Ich hörte das jeden Tag auf der Redaktion: Denkt an die Leser. Da weigere ich mich ebenfalls. Warum soll ich an sie denken? Ich halte es mit Vladimir Nabokov: Wenn ich an den Leser denke, schaue ich in den Spiegel. Wenn ich gewisse Ansprüche voraussetze, tut dem Leser das gut, da kommen seine Bedeutung und sein Rang zum Tragen. Und dann soll der Leser oder die Leserin einen Satz auch zweimal lesen. Wenn er oder sie die Hoffnung hat, dass er beim zweiten Mal eine Erkenntnis gewinnt, dann macht er oder sie dies auch.
Wir kommen in diesem Gespräch nicht darum herum, über den Fall Claas Relotius zu sprechen. Der Fall hat große Wellen geschlagen. Was hat sich seither in Ihrer Arbeit geändert?
MD: Das würde mich auch interessieren. Man hat immer wieder gehört, dass das Genre Reportage in Mitleidenschaft gezogen worden wäre. Da habe ich meine Mühe, das zu glauben. Ich habe keine Leserbriefe o.ä. deswegen erhalten. In der Tagespresse ist die Reportage aus ganz einfachen Gründen nicht sehr beliebt: Sie braucht zu viel Platz und sie hat meist zu geringe aktuelle Brisanz.
DPB: Ich bin die Relotius-Diskussion ehrlich gesagt müde. Diese Diskussion lähmt die Branche seit Bekanntwerden des Skandals, also dem 18. Dezember 2018. Mitte April fand in Hamburg das Reporter-Forum statt. 400 Reporter und Journalisten diskutierten zwei volle Tage an Dutzenden von Veranstaltungen zum immer gleichen Thema. Ich staune über das Maß der Selbstzerfleischung der deutschen Kollegen.
MD: Mir scheint der Fall nicht sehr kompliziert zu sein: Relotius ist ein Scharlatan und Hochstapler. Es gibt statistisch in jeder Epoche und in jeder Profession einen gewissen Prozentsatz davon.
Herr Puntas Bernet, in einem Interview mit der »Medienwoche« gehen Sie auf Relotius’ Reportage »Der Mörder als Pfleger« ein und erzählen von der Szene, wo der Pfleger und der Alzheimer-Häftling gemeinsam mit Relotius unter der Dusche stehen. Als der Kranke in Panik verfällt, beginnt der Pfleger zu singen – und Relotius singt mit. Sollte die Duschszene erfunden sein, was ist daran so verwerflich?
DPB: Das ist ja der Punkt. Als HerausgeberInnen und LeserInnen der Geschichte erhoffen wir, etwas von der Faszination an der Alzheimer-Pflege zu erfahren, die er beschreibt. Das würde alles, trotz Lüge, erhalten bleiben. Die Reportage ist prinzipiell nach wie vor wahr, und der Erkenntnisgewinn im Zusammenhang mit Alzheimer und wie sich Menschen in solchen Situationen verhalten, ebenso. Der Autor müsste allerdings deklarieren, welche Szenen Fiktion sind oder eine Nacherzählung, wenn es ihm jemand erzählt hat. Doch wenn es eine pure Erfindung ist, dann hat diese in einer Reportage einfach nichts verloren. Und das ist das Problem bei allen Relotius-Texten: Zu 90 % transportieren sie eine Realität und einen Sachverhalt, der richtig ist. Und diese Extra-Kirschen auf der Torte, die machen das Ganze kaputt, weil kein Vertrauen mehr vorhanden ist, und man nicht weiß, was sonst noch erfunden ist.
Am letzten Wochenende im August fand das erste »Reportagen Festival Bern« statt. Was war die Intention des Festivals?
DPB: Wir wollten dem Publikum die Faszination der Reportage näher bringen und ihm die Chance geben, hinter die Kulissen des Journalismus zu blicken. Denn meine Erkenntnis aus jahrelanger Erfahrung ist: Die Leute haben nur wenig Ahnung, wie Journalismus wirklich funktioniert. Herr Dohner, Sie sind seit Kurzem pensioniert.
Wie geht es bei Ihnen weiter?
MD: Eigentlich gleich wie zuvor, einfach freier: Ich werde Literatur schreiben. Bisher war meine Camouflage der Journalist (lacht).
* Der deutsche Journalist Claas Relotius wurde für seine Reportagen mehrfach ausgezeichnet. Am 19. Dezember 2018 machte sein Arbeitgeber »Der Spiegel« publik, dass viele seiner Reportagen teilweise erfunden sind. Auch »Reportagen« veröffentlichte fünf seiner Texte.
Max Dohner bei rüffer&rub: »Am Himmel kaum Gefälle« (2019), »Liebeslauben« (2007)
Bildlegende: Daniel Puntas Bernet (links) und Max Dohner. © Felix Ghezzi
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