Natürlich klagen die Prominenten nur hinter vorgehaltener Hand; schließlich sind sie auf mediale Zuwendung angewiesen. Doch es gibt Interviews, die erweisen sich als reine Zeitverschwendung. Ja, als Zumutung. Der Jungjournalist will ihre Lebensdaten wissen, die er auch im Netz finden kann. Die Altjournalistin, die schon alles gesehen und gehört hat, arbeitet lustlos ihren Fragebogen ab und bohrt nirgendwo tiefer. Der Intellektuelle weiß eh schon alles besser und möchte nur noch sein Wissen bestätigt haben. Und der Grüne, der Linke und die Feministin verharren bis zum Schluss in Lauerstellung und fragen nur in ihre vorgefasste Richtung.
Selbst das Lokalkolorit, das dem Porträt Farbe anschminken und die physische Begegnung beweisen soll, bleibt flach und nichtssagend. Der Manager hat »den obersten Hemdknopf geöffnet« und trägt eine »dünnrandige Brille«. Die Dichterin hat »zarte Hände« und »blättert verträumt im Fotoalbum«.
Schuld an der zunehmenden Monotonie in Sachen Porträts ist nicht nur die Requisitenkammer Google, in der sich alle bedienen und dabei immer die gleichen Versatzstücke recyceln. Schuld ist auch der herrschende Zeitdruck. Meist können oder mögen weder Interviewte noch Interviewer mehr als eine Stunde in eine Begegnung investieren. Da diese zudem an so öden Orten wie Sitzungszimmern oder angemieteten Hotelsuiten stattfindet, gibt es null Chance, Nähe zu entwickeln. Oder eine Vorstellung dafür zu bekommen, wie sich der Porträtierte verhält, wenn er nicht hinter dem Schreib- oder Salontisch sitzt.
Rebecca Clopath (links) | »Auf dem Acker meines Biohofs wachsen Kartoffeln. Bis die verkauft werden, gibt es normalerweise noch zwei, drei Zwischenhändler, die fallen bei uns weg. Dadurch können wir dem Hof mehr bezahlen und die Gastronomie kann mit einem anständigen Preis arbeiten.« – Sina Alpiger, Lia Budowski
Arno Camenisch (Mitte) | »Einmal hat er Bob Dylan im Hallenstadion gesehen. Dylan hat den Literaturnobelpreis gewonnen und weiss, wie man mit Worten umgeht. (…) Camenisch sagt: ›Nach der Zugabe steht Dylan ganz hinten auf der Bühne, schaut drei Sekunden ins Publikum, dreht sich ab und geht. Dieser Moment, dieser kleine Moment. Sensationell.‹ Er spricht im Präsens, obschon dieses Konzert viele Jahre her ist. Das Staunen ist geblieben. Bis in die Gegenwart.« – Renato Schatz
René Blattmann (rechts) | »Die Welt wird nie gerecht genug sein, als dass sie Juristen wie René Blattmann nicht mehr bräuchte. Viel wichtiger ist, dass es sie gibt. Dass sie ihre Ideale verfolgen und verteidigen, auch wenn der Grund für ihre Notwendigkeit sich ihnen querstellt, sie diskreditiert, ihre Errungenschaften untergräbt. Es gibt sie, die Idealisten, sie werden gebraucht. Vielleicht mehr denn je.« – Maurus Held
Das Ergebnis dieser neuen Interview-Kultur ist oft so mager, dass immer mehr Medien jene Zeit, Geld und Platz sparenden Horror-Listen vorziehen, die vorgeben, einen Menschen mit 20 Fragen umfassend zu beschreiben. Wo machen Sie am liebsten Ferien? Was ist Ihr Lieblingsgericht? Welches ist Ihre Lieblingsfarbe?
Dabei wird keine andere journalistische Form lieber gelesen als das Porträt, keine bringt mehr Quote, keine ist spannender. Denn nichts interessiert die Menschen mehr als andere Menschen. Selbst das hundertste Porträt von Trump, »Carlos« oder Federer wird verschlungen in der Hoffnung: Vielleicht erfährt man ja etwas Neues ...
Doch genau hier liegt die Crux. Selbst wirkliche News fügen sich meist nahtlos ins Bild ein, das man schon vorher von einem Menschen hatte. Dabei erlebte der Journalist, die Journalistin den von allen Feuilletons hochgelobten Schriftsteller keineswegs als Schöngeist, sondern als narzisstischen Angeber und Schwätzer. Und noch selten hatten sie einen so musik- und literaturbegeisterten Politiker porträtiert wie den von allen geschmähten SVP-Nationalrat. Doch kaum wieder zu Hause und vor dem Computer, überwiegt die Angst, sich mit einer ungewöhnlichen Sichtweise zu blamieren oder unbeliebt zu machen. Schließlich können Heerscharen ehrenwerter Kollegen und Kolleginnen in ihrem Urteil nicht irren.
Collins Onoha Uzondu (links) | »Sein Vater kommt aus dem Südosten von Nigeria, wo Igbo gesprochen wird. Es ist derselbe Dialekt, der auch in ›Mehrzahl vo Heimat‹ vorkommt. Wenn Uzondu und sein Bandkollege Michel Piangu also ›Eba abomonie ebahu‹ singen, bedeutet das: ›Hier bin ich der von dort.‹« – Natasha Hähni
Gülsha Adilji (rechts) | »Auf Instagram unterhält die 35-Jährige fast täglich ihre über 17 000 Follower mit kurzen Video-Storys und Bildern. Eine ihrer wöchentlichen Kategorien heißt: ›Dinge, die mir diese Woche aufgefallen sind.‹ Adilji nimmt einen virtuell auf einen Wochenrückblick durch die Innenstädte Zürichs und Berlins mit, gesalzen mit einer Prise Gesellschaftskritik.« – Suad Demiri
Gerade Neulinge im Beruf tun sich schwer damit, das nötige Selbstbewusstsein für das Stehen zum eigenen Eindruck aufzubringen. Begreiflich. Häufig auch drucken sie unzählige Archivkopien aus und lernen die Fragen sogar auswendig. Doch schon bei der ersten unerwarteten Antwort geraten sie ins Trudeln. Oder sie gehen, besonders in Interviews mit Gleichaltrigen, schon bald zum Du und anderen Vertraulichkeiten über. Damit wird später jedes kritische Wort zum Hochverrat und das Porträt zum Werbespot.
Dabei – das Wichtigste für das Gelingen eines Porträts lernt man in keiner Journalistenschule: Man muss die klimatischen Voraussetzungen für ein gutes Gespräch schaffen. Die Interviewten müssen Spaß an der Begegnung haben. Die Fragen überraschen sie, zwingen sie zum Nachdenken. Noch nie haben sie sich selbst so gesehen wie im Spiegel, der ihnen jetzt vorgehalten wird. Tja, spannend. An diesen Aspekt haben sie noch nie gedacht. Mal jemand, der wirkliches Interesse an ihnen zeigt. Der nicht nur aus beruflichen, sondern auch aus persönlichen Gründen wissen will, wie das denn war. Der nicht gleich nach der letzten Frage eilig das Handwerkszeug zusammenpackt und zum nächsten Termin eilt. Dann, vielleicht, geschieht das Beste, was bei einem Interview passieren kann. Die Porträtierten öffnen sich, das Interview wird zum Gespräch, die Zeitlimite ist vergessen. Und später wird die Leserschaft einen Menschen kennenlernen, von dem sie schon alles zu wissen glaubte und der doch ganz anders ist. Noch schöner: Sie haben nicht nur alles über die Begegnung erfahren. Sie saßen persönlich dabei.
Margrit Sprecher und Daniel Puntas Bernet, Jury-Mitglieder »Charakterköpfe«
Bildlegende: Rebecca Clopath © Dennis Savini; Arno Camenisch: © Renato Schatz; René Blattmann © Maurus Held; Collins Onoha Uzondu © Natasha Hähni; Gülsha Adijli © Suad Demiri
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