Die Biografie von Herrn Welles war die letzte, die ich schrieb.
Meine finanzielle Lage war damals miserabel. Das Buch davor verkaufte sich nicht, und es kamen keine neuen Aufträge rein: Niemand antwortete auf meine Inserate, mit denen ich die unzähligen Jobbörsen im Internet überschwemmte. Je größer die Geldnot wurde, desto drastischer sanken meine Ansprüche: Ich flehte mittlerweile um Arbeit. Das sah man meinen Inseraten auch an. Als ich nach drei Monaten nahezu pleite war, erschien mir eine E-Mail als Retter in der Not: Ein Herr namens Arthur Welles bat mich darum, auf sein Anwesen im Périgord zu kommen, wo ich auch wohnen könne, um seine Biografie zu schreiben. Das üppige Gehalt, das er mir versprach, deutete auf einen gut betuchten Herrn hin. Sein Name ließ mich an einen englischen Lord denken, der im samtenen Morgenmantel mit Pfeife im Mundwinkel durch ein prunkvolles Gemach schlurft. Diese Vorstellung entfachte meine Neugier. Weshalb sollte ich nicht hingehen? Ich überlegte nicht lange.
Noch nie hatte ich mich in meinen Erwartungen so sehr getäuscht: Das Anwesen entpuppte sich als stinknormales Reihenhäuschen in einer kleinen, grauen Industriestadt. Welles, der mich einige Minuten vor der Tür warten ließ, war ein pummeliger, alter Mann. Er war auffallend bleich und machte einen niedergeschlagenen Eindruck, doch er empfing mich äußerst freundlich.
Beim Abendessen lernten wir uns näher kennen: Welles war ein pensionierter Versicherungskaufmann, der finanziell mehr als ausgesorgt hatte. Er lebte allein, seit seine Ehefrau vor einem Jahr an Krebs gestorben war. Ansonsten besaß er weder Familie noch Bekannte. Im Laufe des Abends kam er auf den Grund meiner Anwesenheit zu sprechen: »Mir geht es bei der Biografie nicht um bestimmte vergangene Ereignisse, sondern um meine Persönlichkeit. Ich weiß nicht, ob man das streng genommen noch eine Biografie nennt, doch ich möchte, dass der Leser erfährt, was ich für ein Mensch bin.« Seine Bedingungen waren simpel: »Schreiben Sie jeden Tag meine Worte auf. Ich habe Ihnen dafür schon ein Notizbuch besorgt. Das Buch sollen Sie nach dem Schreiben immer auf den kleinen Tisch im Wohnzimmer legen, damit ich es lesen kann. Am liebsten würde ich meine Biografie selber schreiben, doch ich hab’s nicht so mit der Grammatik, wissen Sie. Wie Sie Ihre Zeit sonst verbringen, ist Ihre Sache.« Es ging mir zwar gegen den Strich, stoisch Diktate festzuhalten, doch ich war froh über eine neue Beschäftigung, das Geld und den vollen Kühlschrank.
Vor dem Schlafengehen ging ich ins Badezimmer. Da bemerkte ich, dass kein Spiegel im Zimmer hing. Auch sonst hatte ich keinen einzigen im Haus gesehen.
Am nächsten Tag begann ich mit den Aufzeichnungen. Herr Welles klopfte jeweils an meine Zimmertür und verlangte, dass ich seine Schilderungen festhielt. Schon beim ersten Mal überkam mich ein unangenehmes Gefühl. Denn das, was er mir erzählte, entsprach offensichtlich nicht der Wahrheit: »Notieren Sie: Welles’ prächtiges Anwesen mit seinen fünf edlen Pferden konnte bloß dank seinem unerbittlichen Ehrgeiz und Fleiß errichtet werden.«
Ich schmunzelte: »Sie tragen ganz schön dick auf. Mir ist hier noch kein einziges Pferd über den Weg gelaufen.«
Herr Welles überhörte meinen Kommentar und fuhr mit ernster Miene fort: »Die tägliche Gymnastik hält Herrn Welles in Form, sodass man ihn stets zwanzig Jahre jünger schätzt.«
Ich musste mich zusammenreißen, um nicht laut loszulachen und schielte auf Welles’ Bierbauch, bevor ich seine Märchengeschichte niederschrieb. Seine Erzählungen waren oft amüsant, doch der Ernst, mit dem er diese vortrug, verlieh seinen Spinnereien einen unheimlichen Beigeschmack. Diese Mischung aus Komik und Unbehagen beschlich mich nun jedes Mal, wenn wir an seiner Biografie arbeiteten.
Am Abend kaufte ich mir in der Stadt ein zweites Notizbuch, denn ich hatte vor, diesen unverhältnismäßig großen Kontrast zwischen Welles’ Selbstbild und der Realität festzuhalten. Die wahre Biografie im zweiten Notizbuch bewahrte ich behutsam in meinem Zimmer auf.
Auch in den nächsten Tagen wurde Welles nicht müde, die fantastischsten Geschichten über sich selbst zu verkünden. So wurde die Biografie zu einer Leinwand, auf der das Selbstbild eines Mannes entstand, der zugleich Gegenstand des Bildes und Maler war. Und er malte sein Bild mit kräftigen Pinselstrichen, wobei er unaufhörlich Farbe auftrug, ohne in seinem Enthusiasmus zu bemerken, dass diese Farbe immer mehr über den Rahmen der Realität hinauslief und zu Boden tropfte.
Fortan machte ich eine seltsame Beobachtung: Welles pflegte jeweils vor dem Schlafengehen das Notizbuch zu lesen. Die Lektüre seiner erfundenen Geschichten hatte dabei eine Wirkung auf ihn wie Medizin: Als wären die Wörter Tabletten. Jeden Morgen schienen mir seine Wangen rosiger als am Tag zuvor. Er wirkte stetig gesünder und lebensfroher. Auch wenn er mal tagsüber im Notizbuch las, verbesserte sich seine Stimmung schlagartig.
Grundsätzlich wohnte ich gerne mit Welles zusammen. Zwar war er etwas seltsam, aber es ließ sich recht angenehm mit ihm leben. Er war sogar ein sehr humorvoller und kluger Mensch. Es gab kein Thema, zu dem er nicht eine entschiedene Meinung hatte. Und seine Ansichten verteidigte er immer mit Leib und Seele. Damals gab es viel Diskussionsstoff, denn in Frankreich standen gerade die Präsidentschaftswahlen an. Wir ließen uns täglich über die Kandidaten aus, wobei wir uns häufig in die Haare kriegten. Welles nahm kein Blatt vor den Mund und bezeichnete mich mehrere Male als verweichlichten Idealisten oder weltfremden Träumer. Er tat das jedoch stets mit einem schelmischen Zwinkern, sodass ich ihm nie böse sein konnte. Ich begann allmählich sogar, ihn und seinen verschrobenen Charakter liebzugewinnen.
Welles’ Zustand schien sich zudem weiterhin zu verbessern. Er hatte nämlich einen kleinen Spiegel im Badezimmer und einen riesigen, prunkvollen inmitten des Wohnzimmers angebracht, in dem er sich mehrmals am Tag eingehend betrachtete.
»Und, sind Sie schön genug?«, zog ich ihn jeweils auf.
»Ja«, antwortete er stets aufrichtig lächelnd.
Dann kam die letzte Nacht, die ich bei Welles verbrachte.
Seitdem habe ich mich oft gefragt, was aus ihm geworden ist. Ich habe nämlich nichts mehr von ihm gehört und auch nie Kontakt mit ihm aufgenommen. Ob jemand anderes an seiner imaginären Biografie weitergeschrieben hat?
An besagtem Tag traf ich mich nach dem Abendessen in einer Kneipe mit einem alten Freund, der auch im Périgord wohnte. Welles ging schon sehr früh zu Bett. Die Biografie hatte ich mitgenommen, denn ich wollte die Meinung meines Freundes zu den unglaublichen Geschichten hören. Ich war enttäuscht, als er das Ganze unbeeindruckt als Witz abtat und das Gespräch nach kurzer Zeit auf ein anderes Thema lenkte. Nichtsdestotrotz war es ein angenehmer Abend, sodass wir lange in der Kneipe blieben und ich erst sehr spät zurückkam. Währenddessen litt Welles an einem unruhigen Schlaf: Er schreckte mitten in der Nacht hoch, lag lange wach und versuchte vergeblich, wieder einzuschlafen. Nach einiger Zeit kam ihm die Idee, seine Memoiren zu lesen, da sie immer einen beruhigenden Effekt auf ihn hatten. Er fand sie nicht an ihrem gewöhnlichen Ort und setzte seine Suche fieberhaft in den anderen Räumen des Hauses fort. Schließlich durchsuchte er bestürzt auch mein Zimmer und stieß so auf das zweite Notizbuch, das die wahre Beschreibung seines Charakters enthielt.
Als ich nach dem vergnüglichen Abend zurückkam, erwartete mich Welles bereits, um mich sofort zu entlassen. Schon mehrmals hatte ich mir ausgemalt, wie er wohl reagieren würde, wenn er die wahre Biografie läse. Durchaus konnte ich mir vorstellen, dass er mich wütend aus seinem Haus jagen würde. Doch mit Folgendem hätte ich auch in meinen kühnsten Träumen niemals gerechnet: Welles feuerte mich nicht etwa, weil ich heimlich die Wahrheit über ihn festhielt, sondern weil ich ein illoyaler Arbeitnehmer sei. Er warf mir tatsächlich vor, hinterrücks für jemand anderen eine Biografie zu schreiben.
Alexander Kamber, geboren 1995 in Zürich. Ebenda Kindheit, Jugend, erste Short Stories. Zurzeit Studium der Kulturwissenschaften mit Schwerpunkt Philosophie an der Universität Lüneburg und arbeitet daneben als freier Journalist.
Sein erster Roman »All das hier«
Bildnachweis: Illustration © Laila Defelice
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