In ihren jüngsten Büchern schreiben der Opernexperte Iso Camartin über Arien als Schlüsselelemente musikalischer Empfindungen, der Musiker und der Komponist Daniel Fueter über den Wert der Musik und die Musikbildung. Wir haben die beiden für ein Gespräch an den Verlagstisch gebeten.
Wann wurde Ihnen bewusst, dass für Sie Musik nicht nur eine private Leidenschaft, sondern dass sie zum Beruf respektive zu einem wichtigen Teil der beruflichen Tätigkeit werden soll?
Daniel Fueter: Ich erhielt ab sechs Klavierunterricht. Bis 17 war es einfach ein schönes Hobby, ich war von zu Hause aus [Anne-Marie Blanc ist seine Mutter] sehr fasziniert vom Theater. Und plötzlich merkte ich, Musik könnte mein Weg sein. Ich bekam von meinem Klavierlehrer unvernüftigerweise die große Schubert-»B-Dur-Sonate« zum Üben, ein grandioses Stück. Und vielleicht hat diese Welt den letzten Anstoß gegeben. Ich habe mich also sehr spät für die Musik entschieden.
Iso Camartin: Meine erste Erinnerung ist die, dass ich mit 5 oder 6 meinen Eltern – sehr katholisch, wir mussten morgens in die Messe und abends in den Rosenkranz – mitteilte: Ich gehe nur noch in die Kirche, wenn die Orgel spielt. Dann fing ich mit dem Klavierspiel an, zu Beginn des Gymnasiums wechselte ich zum Cello. Nach der Matura ging ich nach München, war bis drei-mal pro Woche in der Oper und beobachtete, wie die Posaunisten Schach spielten, wenn sie nicht im Einsatz waren. Zudem wusste ich, dass ich kein »Slawa« Rostropowitsch war und nie ein Solo-Cellist werden würde. Darum bin ich zur Philosophie und zur Romanistik übergelaufen, das schien mir aussichtsreicher. Musik kann man ja hören und muss sie nicht unbedingt selbst machen.
In den Medien wird, so scheint es uns, Musik immer mehr zum Randphänomen. Was bedeutet das für die Kultur und die Bildung?
IC: Es gibt zwar weniger Konzertberichte als früher, aber das ist nicht der Untergang der Musik. Die Musikszene hat sich in den letzten Jahren allerdings derart verändert, dass eine gleichwertige Präsenz aller musikalischen Genres im Medienspiegel nicht mehr zu finden ist. Früher wurde jede Opernaufführung und jedes große klassische Konzert besprochen, heute gibt es nur noch wenige Zeitungen, die das pflegen. Doch ich glaube, dass die Leidenschaft für die Musik größer ist, als sie je war. Das gilt auch für die Kompetenz im Umgang mit Musik, wenn man hört, was für tolle junge Leute auf der Szene erscheinen.
DF: Vieles sehe ich auch so. Was die Medienpräsenz betrifft, gilt die Klage nur für die klassische Musik, Populärmusik hat ein großes Echo, zumindest die großen Aushängeschilder der Massenkultur. Früher wurden auch die kleinen ungewöhnlichen Aufführungen durch den Blick der Medien gefördert. Bei der klassischen Musik beklage ich, dass uns ein Echoraum abhandengekommen ist. Gerade Zürich hatte viele Musikkritiker-Innen, die für uns ein Maßstab waren, selbst wenn man eine andere ästhetische Position vertrat. Und ihre Vermittlertätigkeit zwischen uns und dem Publikum war wichtig und eine große Freude. Was allerdings junge MusikerInnen heute leisten, das Niveau –
wie gerade eben am Concours Géza Anda – ist unwahrscheinlich, ich war begeistert.
Sie sprechen die Musikwettbewerbe an: Ohne Podestplätze haben MusikerInnen keine Chance auf Konzerte, Plattenverträge etc. Ist da der Musikunterricht nicht ein wahnsinniger Talent- und Förderverschleiß?
DF: All die hervorragenden MusikerInnen, denen wir nicht mehr auf der Bühne begegnen, weil es einfach zu viele große Begabungen gibt, die finden wir im musikpädagogischen Bereich wieder oder in vielen Konstellationen, in denen Musik eine Rolle spielt und wo wir von dieser Qualität immens profitieren. Eine Musikausbildung läuft nicht nur darauf hinaus, Violin- oder Konzertmeisterin zu werden. Die vielseitigen, klugen KünstlerInnen finden ihren Raum, auch wenn der nicht auf den Podien ist.
In der Musik scheint der Wettbewerb also Positives zu bewirken. Gleichzeitig kämpfen Sie, Herr Fueter, in Ihren Texten immer wieder gegen den sogenannten Neoliberalismus, gegen das Denken in Quantitäten …
DF: Meine Behauptung, Musik sei unentbehrlich …
IC: Das unterschreibe ich sofort!
DF: … hat ja auch etwas Anmaßendes. Man könnte sagen, es gibt heute andere Probleme, als dass die klassische Musik verschwindet. Wir sind jedoch umgeben von den drei Mächten, die der Schriftsteller Urs Widmer so schön als Gier, Größenwahn und Dummheit bezeichnet hat, und wir haben unter den Folgen sehr zu leiden. Deshalb ist es nicht ganz so anmaßend zu sagen, die Beschäftigung mit Musik, ihre Pflege und die Heranführung der Jugendlichen an sie ist eine »Impfung« gegen ein Denken, das nur von der Vorstellung ausgeht, Geld, Erfolg und ein zweifelhafter Fortschritt seien Ausweise des Guten. Das kritisiere ich seit Langem, und dagegen kämpfe ich auch weiterhin an.
Und muss diese »Impfung« zwingend über Universitäten und Fachhochschulen laufen?
DF: Selbstverständlich wird an den Hochschulen viel Fachwissen vermittelt. Doch die Förderung wird vermehrt auf die Persönlichkeitsentwicklung gerichtet, auf einen Blick, der die Musik in ihren Zusammenhängen erkennt und nicht nur auf die Protektion von Sonderbegabungen. Wir dürfen allerdings nicht vergessen, dass es ganz andere Wege gibt, um zu kluger, graziöser Musik zu gelangen. Die ganz aufregenden Dinge in der Neuen Musik kommen häufig nicht aus einem akademischen Milieu, sondern aus ganz bestimmten Konstellationen und Lebenssituationen. Wenn ich in den Popbereich, die Volksmusik oder die Weltmusik schaue: Dort gibt es nicht den großen Meister. Es kommen Menschen zusammen, die sich im Glücksfall durch ihre Widersprüche ergänzen, sich fördern, herausfordern. Da kommt eine Band zusammen, die in der Tradition ganz anders forscht als wir Klassiker, die sich oft nur vom Ohr aus alte Aufnahmen anhört, sich in bestimmten Stilen bewegt, die eigene Wege sucht. Da besteht eine Art orale Tradition, die wir in der Klassik ein wenig verloren haben.
IC: Da gebe ich dir recht, dass sehr vieles interkommunikativ läuft – und wenn die richtige Stimme mit dem richtigen Musiker zusammenkommt, können in jedem Genre Wunder geschehen. Dennoch scheint es so etwas wie Spezialbegabungen zu geben, die diese Brücke bilden zwischen ernsthafter Komposition und zum Beispiel der Chanson-Tradition. Wir kennen diese wunderbar leichten Arten von Musik, halb gesungen, halb gesprochen, mit vielen Freiheiten. Und dann kommt plötzlich jemand mit einem klassischen Hintergrund und beginnt, diese Angebote – von Texten, Stimmen und Interpreten – beispielsweise in einen Klavierklang oder gar in einen Orchesterklang umzusetzen. Und das ist, glaube ich, tatsächlich etwas, das man hat oder nicht; etwas, das man kann oder nicht, etwas, das aber auch mit einem gelernten Handwerk zu tun hat.
Mit den Musikstreaming-Plattformen (Spotify, YouTube etc.) steht seit einigen Jahren jederzeit unendlich viel Musik sofort zur Verfügung. Welche Vor- und Nachteile sehen Sie darin?
DF: Zuerst: Das Digitale reicht nicht aus, wie sich nun während der Coronazeit zeigt. Mitte Mai 2021 spielte ich nach Monaten zum ersten Mal wieder – 7 Konzerte –, und das Publikum war so froh, live dabei sein zu können. Die physische Präsenz ist trotz all den interessanten digitalen Angeboten nicht zu unterschätzen.
Es stellt sich natürlich die Frage nach den Urheberrechten und den Honoraren, beides ist in der Tat enorm problematisch geworden. CD-Verkäufe sind eingebrochen, die Verdienste durch Streams gehen vor allem in die Taschen der Stars. Musiker, die von den Auftritten leben (müssen), haben es schwer. Es gibt zwar Initiativen, die sich dagegen wehren, aber dieses »Gratis-Verhalten« zu ändern ist unmöglich geworden.
Aus pädagogischer Sicht: Es ist heute sehr schwierig, die Studierenden davon abzuhalten, sich im Internet zu informieren, wie etwas aufgeführt wird, bevor sie den eigenen Zugang zu einem Stück ausloten. Diese Informationen sind sehr viel wert, dürfen meiner Ansicht nach aber nicht zum falschen Zeitpunkt aufgenommen werden. Der Zugang zu einem Stück muss immer über den Notentext oder das eigene Musizieren erfolgen. Und wenn man den eigenen Weg gefunden hat, vielleicht sogar in eine Sackgasse gelaufen ist, vielleicht etwas Gültiges entdeckt hat, dann finde ich es wunderbar, den Vergleich zu den Großen zu suchen und sich daran zu messen. Es darf den eigenen Mut jedoch nicht einschränken, wenn ich Beethovens »Hammerklaviersonate« übe und mir dann die legendäre Aufnahme von Artur Schnabel anhöre. Wenn ich mich zur falschen Zeit daran messe, dann höre ich auf zu spielen.
Sie sind also nicht unglücklich, in Ihrer Jugend nicht solche Möglichkeiten gehabt zu haben?
DF: Keineswegs. Ich bin auch nicht unglücklich, damals nur wenige Platten besessen zu haben. Der Pianist und Komponist Werner Bärtschi und ich haben den kleinen Flügel bei mir zu Hause kaputtgespielt, weil wir mit Inbrunst vierhändig geübt haben. Das war wichtig, um uns an Beethoven heranzutasten.
IC: Ich habe ein großes Plattenarchiv, den größten Teil davon – 7500 CDs – habe ich der Musikakademie in Lemberg übergeben. Ab einem bestimmten Punkt konnte ich mich davon trennen. Natürlich auch, weil es inzwischen die digitalen Medien gibt – auf YouTube kann man heute einen sehr großen Teil des Weltrepertoires hören. Allerdings bleibt für mich das Live-Erlebnis der Königsweg, um über Musik nachzudenken. Ich habe eine größere Nähe zur Musik in der Live-Situation als im entfernten Medium. Das ist etwas, das hoffentlich nicht als nicht mehr notwendig angesehen wird, weil man scheinbar alles via Medien herbeiholen kann. Manchmal befällt mich diese Befürchtung, wenn ich all die JoggerInnen im Wald sehe, die Kopfhörer im Ohr haben und keine Vögel live hören möchten.
Herr Camartin, Sie sind vor allem passionierter Hörer. Abgesehen von einem möglichen musikalischen Genuss: Was kann einen eine Arie lehren?
IC: Eine Arie ist in der Regel ein Besinnungsmoment, ein Reflexionsmoment, nicht mithilfe von argumentativer Logik, sondern im Sinne von Glücksabwägungen: Macht mich die Situation krank oder gesund? Macht sie mich glücklich oder bin ich verzweifelt? Diese aus einer Situation heraus entstehenden, dramatischen Augenblicke der Oper – warum liebt er mich oder auch nicht, warum muss ich meinen Bruder umbringen – sind denkbare dramatische Schlüsselmomente des Lebens. Man könnte nun behaupten, sie seien ja nur Theaterlogik. Doch dann taucht auf einmal eine Arie auf, in der ein Besinnungsmoment zum Vorschein kommt, bei dem der Zwiespalt der Seele eine Farbe erhält. Am Schluss einer Arie kann man eigentlich immer sagen, ob die Figur ein guter oder ob das ein böser Mensch ist. Diese ethische Ebene läuft über die Gefühle, und das Entscheidende ist, ob die Zuschauer und Zuhörerinnen bei sich selbst etwas von dieser Besinnung mitbekommen oder nicht.
Sie haben einmal gesagt, es gebe »das perfekte Arien-Glück«. Was genau ist das?
IC: Das perfekte Arien-Glück ist das transitorische Glück, das nur kurz anhaltende. Das kommt in einem Moment, in dem man plötzlich den Eindruck hat, heute Abend stimmt einfach alles, alles ist reine Beglückung: die Aufführung, die eigene Stimmung und die im Konzertraum. Das kommt nicht immer vor, aber wenn es gelingt, ist es außergewöhnlich.
Herr Fueter, Sie haben neben Chansons, Klavierstücken und Kammermusik auch die Oper »Forelle Stanley« geschrieben: Welchen Stellenwert hat bei Ihnen die Arie?
DF: Für mich ist das Wesen der Oper das Ensemble, denn da ist etwas möglich, was im Sprechtheater nicht geht: dass alle gleichzeitig quasseln und jeder seine eigene Geschichte erzählt und dass Simultanität in der Musik aufgehoben werden kann. Das ist für mich jeweils das Spannendste – die großen Ensemble-Szenen, die, im Gegensatz zur Arie, ein Vorantreiben der Handlung bedeuten. Das Zusammenwirken der verschiedenen Stimmen hat mich immer fasziniert.
IC: Die Geschichte des Ensembles in der Oper wäre natürlich ein eigenes Buch wert.
DF: Das wollte ich damit anregen! Die geballte Kraft eines Chores, die Einigkeit wird quasi greifbar, man sieht und hört es, das gibt einen großartigen gemeinsamen Klang.
IC: Die Opernhistoriker sagen, dass die Finales – ob im 1., 2. oder letzten Akt – so spezifisch komponiert sind, dass nochmals eine neue Erlebnisebene hinzukommt. In der italienischen Oper haben sie das enorm eingesetzt – beispielsweise im Finale von Verdis »Maskenball«. Das ist eine Zusammenführung aller widerstreitender Momente, die in eine Synthese gebracht werden und für uns zum Schluss noch einmal viele Erinnerungen vom ersten bis zum letzten Akt wach werden lassen. Für den Komponisten ist das Ensemble vermutlich die größte Herausforderung, weil die Geschehnisse am Ende plausibel und graziös zusammenkommen müssen.
Wir sind bei den großen Momenten und Gefühlen der Musik. Zum Schluss: Welches Stück hören Sie, wenn Sie traurig sind?
DF: Wenn ich traurig bin, höre ich selten Musik. Eher versuche ich einen langsamen Satz von Mozart auf dem Klavier zu spielen – aus den Sonaten.
IC: Ich höre in solchen Momenten kaum Arien, sondern eher Instrumentalmusik, und eines der für mich tröstenden Stücke ist das »Dissonanzenquartett« von Mozart.
Und wenn Sie glücklich sind?
IC: Einen Eingangssatz von Bach, bei dem die Freude alles sprengt, wie im »Weihnachtsoratorium« und im »Osteroratorium«. Man muss Freude verbreiten, und diese Musik hat eine solche Macht, diese Freude zu verbreiten.
DF: Die für mich glücklichste Musik ist der ganze »Figaro« von Mozart – vielleicht, weil die Gesellschaft dieser Zeit im Umbruch war. Alles ist in Bewegung, alles will irgendwohin, wo es besser ist; wir haben es mit einer Ahnung von besserem Leben zu tun, die sich intensiv in dieser Musik spiegelt.
Mehr zum Buch »Mein Herz öffnet sich deiner Stimme« von Iso Camartin
Mehr zum Buch »'s fehlt no es Lied« von Daniel Fueter
Bildlegende: Iso Camartin (links) und Daniel Fueter (rechts) im Gespräch; © Felix Ghezzi
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