Kennengelernt haben sie sich 1985, wie könnte es anders sein – auf der Bühne. Graziella Rossi spielte die Mère, Helmut Vogel die Rolle des Père Ubu in »Ubu Roi« von Alfred Jarry. Seither haben sie, neben vielen weiteren Aufführungen, in unzähligen Produktionen gemeinsam gewirkt, unter anderem mit Autoren des Verlags: Rolf Lyssy, Daniel Fueter und Urs Widmer.
Es gibt kaum ein anderes Haus in Zürich, in dem so vielfältig mit Wörtern und Büchern gearbeitet wird. Im roten Backsteinhaus an der Neptunstrasse 20 sind neben Journalist:innen und Werber:innen, dem Dörlemann Verlag und Unionsverlag sowie der Literaturagentur Paul & Peter Fritz die Schauspielerin Graziella Rossi und der Schauspieler Helmut Vogel zu Hause mit einem exklusiven Proberaum.
Die beiden sind an diesem heißen Sonntagnachmittag erst gerade von einer Tournee zurückgekehrt. Am Abend zuvor haben sie zusammen mit dem Pianisten Daniel Fueter ihr Programm »Kulinaritäten – Lesung und Lieder« aufgeführt, basierend auf dem Briefwechsel der Kochbuchautorin Alice Vollenweider und dem Schriftsteller Hugo Loetscher. Nun sitzen sie nebeneinander auf dem kleinen Balkon und erzählen mit Begeisterung über 40 gemeinsame Jahre Leben für und mit der Schauspielerei und über wichtige Weggefährt:innen.
Szenisch-musikalische Lesungen wie die vom Vorabend ziehen sich durch ihr umfangreiches Repertoire. Diese waren neu, insofern als das Theater am Neumarkt sie in den frühen 1980er-Jahren eingeführt hatte, wo Helmut Vogel von 1983 bis 1989 Ensemblemitglied war. Graziella Rossi pendelte als Schauspielerin vor allem zwischen München und Potsdam, trat jedes Jahr in New York, aber auch in verschiedenen europäischen Städten auf. Die szenisch-musikalischen Lesungen entwickelten sie parallel dazu weiter und führen diese inzwischen seit den 1990er-Jahren auf. »Mir gefällt die Form; sie hat etwas Klares: Es ist das Wort, es ist Musik und Rhythmus«, sagt Graziella Rossi. »Und sie sind immer wieder eine Herausforderung. Es besteht auch ein großer Reiz darin, Persönlichkeiten und Texte wiederzuentdecken.« So bei Abenden wie »Des Teufels Geiger. Paganini«, »Der schwarze Mozart«, bis zu den Liebesbriefen von Friedrich Glauser. Und Vogel ergänzt: »Mich fasziniert, dass wir jedes Mal etwas dazulernen und auch noch dafür bezahlt werden, wenn es zu einer Aufführung kommt.«
Die Ideen zu ihren Arbeiten können aus den eigenen Bibliotheken stammen. Sie haben an drei Orten je eine, und es gibt ein größeres Abteil mit Werken, zu denen sie gern einen Abend entwickeln möchten. Aber es reiche nicht, etwas machen zu wollen. »Es muss auch einen Anstoß dazu geben, die richtige Zeit dafür sein«, betont Rossi. Oder die Anfrage kommt von außen, wie bei den ersten Schaffhauser Kulturtagen, die an diesem Sonntag gerade zu Ende gingen. Der Komponist Beat Furrer, den Graziella seit ihrer Jugend in Schaffhausen kennt, schrieb ein Duett für Flöte und Stimme zu Gedichten von Friederike Mayröcker. Die Schriftstellerin wiederum lebte in Wien, woher auch Helmut Vogel kommt.
Graziella Rossi: »Es muss für ein Stück einen Anstoß geben, die richtige Zeit dafür sein«
Aus aktuellem Anlass entstand der musikalisch-literarische Abend »Czernowitz – Eine Gegend, in der Menschen und Bücher lebten«. Vogel wollte ihn schon länger erstellen, es bot sich aber keine Gelegenheit dazu. Die Stadt, heute wieder in der Ukraine, war einst Schmelztiegel der Kulturen, gelegen im entferntesten der österreichisch-ungarischen Kronländer, der Bukowina.
Für die Silser Hesse-Tage 2022 brachten Rossi und Vogel »Was wäre unser Leben ohne Musik! – Hermann Hesse und die Musik« mit vielen jungen Musiker:innen auf die Bühne. Da war die Frage ausschlaggebend, wie man ein jüngeres Publikum ans Festival bringt. Die Idee war, Schüler:innen aus den Musikschulen Oberengadin und Bozen zu engagieren, und so deren Freund:innen und Eltern anzulocken – mit Erfolg. Diese Zusammenarbeit werden sie bereits 2024 wieder fortsetzen.
Aus solchen Begegnungen entstehen bei Rossi und Vogel oft langjährige Kooperationen und Freundschaften. So auch mit Urs Widmer. Helmut Vogel lernte ihn nicht in Basel oder Zürich, sondern in Deutschland kennen, wo er in den 1970er-Jahren in Widmers »Stan und Olli in Deutschland« spielte. Es folgten weitere zwölf Uraufführungen seiner Werke, einige davon im Theater am Neumarkt. Urs Widmer war es auch, der Graziella Rossi nahelegte, dass sie bei »Jeanmaire. Ein Stück Schweiz« die Arbeit als Regieassistentin kennenlernen sollte. Regie führte Rolf Lyssy, der durch seinen Film »Die Schweizermacher« bekannt wurde. Graziella Rossi schätzte an Urs Widmer »seine klaren Vorstellungen und sein unglaubliches Vertrauen, seine Stücke in die Hände des Regisseurs und Ensembles zu legen. Unvergesslich ist auch, wie Widmer selbst uns inszenierte und mitgespielt hat.«
Die Zusammenarbeit von Helmut Vogel mit dem Zürcher Pianisten und Komponisten Daniel Fueter begann bereits in Deutschland und wurde in Zürich weitergeführt, als der Wiener Schauspieler und Regisseur Peter Schweiger 1983 die Leitung des Theaters am Neumarkt übernahm. Fueter und Schweiger arbeiteten bereits Anfang der 1970er-Jahre zusammen und setzten sich schon damals vorwiegend mit Musiktheater auseinander. Da passte Vogel, der einigermaßen Tasteninstrumente beherrscht, perfekt dazu. »Mich fasziniert bei Dani Fueter immer wieder, wie er Texte und Musik assoziiert. Seine Stücke sind nicht zu intellektuell, es ist immer auch Gefühl dabei. Zudem bewundere ich, in welch kurzer Zeit er ein Programm auf die Beine stellt«, sagt Vogel über den Freund. Rossi kennt Fueter nicht nur durch die Theaterarbeit, sondern teilte mit ihm ein paar Jahre eine Wohnung. »Dani ist ein Phänomen: Er versteht von Musik so viel wie von Literatur, Sprache und Dramaturgie. Und er ist ein überaus sozialer Mensch.«
Graziella Rossi/Helmut Vogel: »Die Hanns-Eisler-Abende fehlen uns«
Ein paar Verbindungen sind angedeutet, und es gäbe noch viel mehr zu erzählen. Doch ohne die folgende Inspirationsquelle kann dieses Porträt nicht enden: der österreichische Komponist Hanns Eisler, der enge Weggefährte Bertolt Brechts. In seiner Person und seinem Werk kommt vieles zusammen, was den beiden wichtig war und ist: politisches Theater, Musik, Wien, Berlin. »Mit ihm haben wir uns immer wieder in Aufführungen auseinandergesetzt, auch zusammen mit dem Pianisten und Eisler-Experten Christoph Keller«, sagt Helmut Vogel. »Und wir sagen immer wieder: ›Wir müssen wieder einen Eisler machen.‹« Und Graziella Rossi fügt hinzu: »Ich habe nie Gesang gelernt. Eisler hat sehr viel für Schauspielerinnen und Schauspieler komponiert. Und dann traut man sich auch zu singen.« Hanns Eisler ist im Proberaum in Form einer großen Gipsbüste präsent und steht an der Neptunstrasse 20, stellvertretend für mehrere Genannte im Text, dafür, wie die Arbeit an Wörtern und Büchern meisterlich mit Musik vereint werden kann.
Bildnachweis: © Felix Ghezzi
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