Ein guter Freund, eine gute Freundin – das sind kostbare Geschenke des Lebens. Als eine meiner Freundinnen mit der Diagnose Brustkrebs konfrontiert wurde, veränderte mich das – nicht als Person, aber in meiner Wahrnehmung der Welt: Mir wurde unmissverständlich bewusst, dass Freundschaft ein Geschenk auf Zeit ist. Durch ihre Krankheit schien nun die Dimension Zeit eine völlig andere Bedeutung zu erhalten, denn es war nicht sicher, ob überhaupt Zeit für die Freundschaft bleiben würde. Und ich fragte mich noch mal ganz neu: Bin ich das, erfülle ich das, was ich selbst als gute Freundin bezeichne?
Das Thema »Freundschaft« beschäftigt uns ein Leben lang; von dem Moment an, in dem wir im anderen ein Du erkennen und uns selbst als Ich erfahren, beginnen zwischen den Menschen unsichtbare Kräfte zu spielen, und wir entwickeln für dieses Gegenüber eine Sympathie. Aus Anziehung kann Interesse entstehen; aus der Erfahrung der Gemeinsamkeit baut sich Vertrauen auf, und schließlich sind wir bereit, die/den anderen als Freundin, als Freund zu bezeichnen. In unserer Alltagssprache wird dem Begriff der Freundschaft viel Aufmerksamkeit geschenkt: Wir sprechen von »der besten Freundin«, wir kennen den »Freundschaftsbeweis«, wir unternehmen »Freundschaftsbesuche«, und wenn wir als gut befunden wurden, werden wir in einen »Freundeskreis« aufgenommen. Die richtige »Freundschaftspflege« füllt ganze Seiten in Zeitschriften, und wohl dem, der »in der Not auf einen Freund zählen kann«; es kann uns aber auch blühen, dass die »Freundschaft aufgekündigt wird«, dass es gar zum schmerzhaften »Freundschaftsbruch« kommt.
Ein Umstand, der mich sehr nachdenklich stimmte, war die Erfahrung, dass Mitleid leichter zu erhalten ist als Mitfreude.
In der klassischen Literatur wie in modernen Kinofilmen ist Freundschaft in all ihren Facetten ein dankbares Motiv. Schriftsteller und Filmemacher erzählen uns in poetischen Worten und betörenden Bildern die Geschichten von tiefen, wahren, unzerbrechlichen Freundschaften, auch solche von verratenen, zerbrochenen Freundesbeziehungen, von denen einige in flammenden Feindschaften enden. Die fiktionalen Geschichten von Freundschaften berühren uns, oft gar zu Tränen, denn in ihnen spiegelt sich die uralte Sehnsucht nach einem Du, dem man »blind« vertrauen, auf das man sich zu hundert Prozent verlassen kann.
Jeder sucht »Freunde fürs Leben«, denn wenn die Welt um einen herum zusammenbricht, was nutzen dann Wohlstand oder Meriten? Was helfen Macht und Geld, wenn man jemanden braucht, dem man die größten Sorgen anvertrauen kann und der einem die Hand hält, wenn das Herz vor Angst schier zerspringen will? Ein Umstand, der mich sehr nachdenklich stimmte, war die Erfahrung, dass Mitleid leichter zu erhalten ist als Mitfreude. Im Mitleid – und das ist wohl menschlich – leide ich buchstäblich mit dem anderen mit und bin ihr/ihm dadurch im Leiden ganz verbunden, aber nicht wirklich bei ihr/bei ihm. Menschen, die eine tiefe innere Entwicklung durchlebt haben, brauchen diese Art der symbiotischen Leidensgeschichte nicht, um Nähe zu empfinden. Diese Freunde verwechseln Mitleid nicht mit echtem Mitgefühl, das von warmherzigem Interesse für den anderen zeugt. Sie sind in der Lage, bei sich zu bleiben, sie brauchen weder Leid noch Glück vom Gegenüber, um sich selbst stark zu fühlen; sie sind in der Seele frei – sozusagen weise geworden – und spüren deswegen beim großen Glück einer Freundin/eines Freundes auch keinen Stich von Neid.
Wenn man genau hinschaut, dann lernt man mit der Zeit zu erkennen, wer die Freundin ist, die sich aus tiefstem Herzen mit uns freut, wenn uns etwas ganz besonders gut gelungen ist; wer der Freund ist, der sich neidlos mit und für unser Glück freuen kann. Schaut man sich aus dieser Sicht den Kreis der Menschen an, die einen umgeben, wird man zurückhaltend, wen man als Freundin, als Freund bezeichnet oder wer eher zum Kreis der guten Bekannten gehört. Und wie weit man selbst bereits auf diesem Weg gekommen ist.
Im Lauf des Lebens zeigt sich, dass kaum eine Beziehung so viel aushält wie die der Freundschaft. Wenn eine Liebe zu Ende geht, ist die Freundin zur Stelle, um zu trösten. Sind wir gefordert, unser Bestes zu geben – beruflich oder privat –, ist es der Freund, der uns unablässig ermutigt, die Herausforderung anzunehmen. Gilt es eine schwere Entscheidung zu treffen, finden wir in der Freundin, im Freund den ruhig zuhörenden Menschen, der uns erlaubt, unsere Gedanken, Überlegungen und Gefühle laut denkend zu entwickeln; sie bieten den wohlwollenden Raum, in dem man sich selbst ohne Be- oder gar Ver-Urteilung erproben kann. Ein guter Freund hält uns aber auch den Spiegel vor, wenn wir uns wieder einmal in Illusionen verrennen; eine gute Freundin verschont uns nicht vor unangenehmen Wahrheiten – sie hält diese jedoch gemeinsam mit uns aus. Der Blick der Freundschaft ist kritisch und wohlwollend zugleich; was die zwei Augen der Freundin, des Freundes sehen, teilen sie mit uns und stehen uns bei, wenn wir durch schwierige Prozesse gehen und dabei auch unseren weniger schönen Seiten selbst begegnen. Was die Freundin in schwierigen oder heiklen Situationen beobachtet, ist bei ihr gut aufgehoben und bleibt bei ihr, und wenn wir uns mit ihr an diese Phase erinnern, dann ist dies stets mit dem Gefühl verbunden, jemanden an seiner Seite zu wissen, der einen in verletzlichsten Momenten erlebt hat. Ein Mensch, der dabei war und geblieben ist.
Wie wahr es ist, dass sich in schweren Zeiten die Spreu vom Weizen trennt, ist gerade bei der Freundschaft zu beobachten. Stürzt der einst Bewunderte vom Sockel und wird gesellschaftlich geächtet – wer stellt sich noch an seine Seite? Ist die lebhafte, aktive Sportlerin nur noch müde und ausgelaugt durch ihre Krankheit – wer sucht dann ihre Gesellschaft? Führen Trennungen von Paaren meist dazu, dass sich auch die gemeinsamen Freunde für die eine oder andere Seite entscheiden (oder glauben, es zu müssen), zeigt es sich in Krisen noch viel mehr, wer Freundin, wer Freund bleiben kann und das auch will.
Wie werde ich eine gute Freundin, ein guter Freund?
Konfrontiert uns ein Mensch damit, dass sie oder er eine schwere Krankheit durchzustehen hat, erinnert er uns damit auch an die eigene Verletzlichkeit. Körperliche wie physische Unversehrtheit scheinen uns lange selbstverständlich, und die Bedrohung durch eine Freundin, einen Freund vor Augen geführt zu bekommen, ist für viele auf Dauer nicht zu ertragen. Ist anfangs noch Betroffenheit das bestimmende Element, sich um die Freundin zu kümmern, stellt sich rasch eine Melange aus eigenen Ängsten und Unbehagen ein, wie man mit der Situation umgehen soll. Feigheit mischt sich mit Scham, dem nicht gewachsen zu sein, es auch nicht zu wollen. Man verfängt sich in einem Kreislauf von unguten Emotionen und wählt am Ende vor lauter turmhohen Schuldgefühlen den Ausweg, dem anderen aus dem Weg zu gehen. Um es auf den Punkt zu bringen: Ohne Klarheit und Offenheit, in der beide sagen, wie es um sie steht, welche Gefühle sie umtreiben, beide die Ängste beim Namen nennen, ihre Sorgen und ihren Kummer – warum ich, warum du nicht? – offen ansprechen, kann diese Beziehung nicht die Kraft entfalten, die in ihr steckt. In diesem Moment zwingt uns der erkrankte Mensch, mit uns selbst absolut ehrlich zu sein, er fordert von uns den Blick in den Spiegel und den Mut, damit umzugehen, was uns von dort entgegenblickt; es ist der Moment der Wahrheit, dem sich niemand entziehen kann.
Eine Krankheit, besonders eine lebensbedrohliche, zeigt die Kostbarkeit der verbleibenden Zeit und bringt Dinge zutage, die für die Betroffenen wirklich wesentlich sind. Menschen, die so unmittelbar mit ihrer Endlichkeit konfrontiert werden, sind nicht mehr bereit, den Augenblick mit überflüssigem Geschwätz zu vergeuden; sie zwingen uns »Gesunde« zu wählen: das Hinschauen auf das, was wirklich ist, oder das Wegsehen und sich Ablenken von allem. Und das ist einer der größten Freundschaftsbeweise, denn indem kranke Menschen uns vor Augen führen, was ihre echten Bedürfnisse sind, fordern sie uns auf, unser eigenes Verständnis von Freundschaft zu überdenken und herauszufinden, welche Art der Beziehung wir mit ihnen führen wollen.
Einen Menschen als Freund durch eine schwere Krise zu begleiten und mitzuerleben, wie diese gemeistert werden kann, hat etwas zutiefst Beglückendes. Das bedeutet keineswegs, dass eine Krankheit geheilt wird oder dass man wieder »wie früher« wird, ganz im Gegenteil. Es heißt, dass man Zeuge eines tief greifenden Prozesses wird: Zurückgeworfen-Sein auf das, was einen als Person ausmacht, wenn Äußerlichkeiten nicht mehr zur Verfügung stehen, wenn Leistung keine Option mehr ist. Dies lässt Fähigkeiten ans Licht treten, die in der alles zudeckenden, fordernden Alltagshektik häufig untergehen: Zuhören können; wissen, was wirklich guttut; sich in das Gegenüber einfühlen können, und zwar in das, was sie/ihn wirklich beschäftigt, und nicht in das, was man erwartet.
Die Facetten von Freundschaft sind vielfältig und besitzen viele Zwischentöne, die für jeden anders klingen. Hingegen stellt sich für alle die Frage: Wie werde ich eine gute Freundin, ein guter Freund? Ganz besonders dann, wenn jemand uns Nahestehendes genau das braucht: einen ihm verbundenen Menschen, einen Freund.
Auszug aus dem Buch »Vom Anfangen und Weitermachen. Frauen erzählen von ihrem Leben nach Brustkrebs«
Bildnachweis: © Luisella Planeta Leoni auf Pixabay
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