Leuchtende Uhrzifferblätter, Wunderheilungen, die Lösung aller Energieprobleme: Die Verheißungen des Atoms, angetrieben von einem unerschütterlichen Fortschrittsglauben, waren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts immens. Die viel zu lange negierten Gefahren ebenso.
Es ist der Traumjob für eine junge Arbeiterin: Leuchtziffern bemalen in einer Uhrenfabrik. Die Arbeit ist anspruchsvoll und gut bezahlt. Das 1898 von Pierre und Marie Curie entdeckte Radium gilt als wahres Wundermittel. Es bringt nachts nicht nur Uhren-Zifferblätter zum Leuchten, sondern verspricht, als »flüssigen Sonnenschein« angepriesen, ewige Jugend, wenn es direkt in den Körper gespritzt oder als »Radiumwasser« getrunken wird.
Die 17-jährige Francis Splettstocher zählt sich 1921 zu den Glücklichen, als sie einen der begehrten Jobs in der »Waterbury Clock Company« in Waterbury im US-Bundesstaat Connecticut erhält. Die Region Naugatuck Valley gilt wegen der vielen Uhrmanufakturen als die »Schweiz Amerikas«. Millionen Uhren werden jährlich gefertigt; ein Kassenschlager sind die im Ersten Weltkrieg entwickelten Armbanduhren mit Leuchtziffern. Die Artilleristen hatten im Krieg genaue, handliche Uhren benötigt – auch nachts. Da kam Undark, eine fluoreszierende Farbe, gerade recht. Sie geht auf eine Erfindung des Elektroingenieurs William J. Hammer zurück. Er hatte 1902 mit einer Radiumprobe experimentiert, die ihm Marie Curie in Paris überlassen hatte. Sie hatte ihn beeindruckt, als sie seinen Diamantring im Dunkeln zum Leuchten gebracht hatte, indem sie ihn neben eine Schachtel hielt, die ein Gramm Radium enthielt. »Es war, wie wenn man eine brennende Kerze neben den Diamanten gehalten hätte«, erinnert er sich.
Das neue Wunderheilmittel?
Hammer mischt das Radium mit Zinksulfid, von dem bekannt ist, dass es von radioaktiver Strahlung zum Leuchten gebracht wird. Das Resultat ist ein Farbstoff, der nachts glüht. Hammer behandelt mit Radium erfolgreich ein Geschwür an seiner linken Hand und empfiehlt es zur Krebstheraphie. Dass beim Hantieren mit radioaktivem Material jedoch grosse Vorsicht geboten ist, ist den Wissenschaftlern der Zeit wohlbekannt. Henri Becquerel, der 1903 zusammen mit dem Ehepaar Curie den Nobelpreis für Physik für die Entdeckung der Radioaktivität erhalten hat, hatte 1901 eines der strahlenden Fläschchen mit Radium wochenlang in seiner Brusttasche herumgetragen und die an einen Sonnenbrand erinnernden Verbrennungen der Haut als direkte Folge der Bestrahlung interpretiert. Unbeabsichtigt inspirierte er damit andere Forscher zur Entwicklung der Strahlentherapie.
William J. Hammer verkauft seine Rezeptur 1914 an die Firma »Radium Luminous Material Corporation« (später US Radium). Die unter dem Markennamen »Undark« vertriebene Leuchtfarbe wird nach Kriegsende zum Renner. Nicht nur Zifferblätter, auch Hausnummern oder die Augen von Puppen leuchten dank Undark, die »besonders hygienischen« Produktionsabfälle werden als Füllmaterial für Sandkästen verkauft. Das passt in eine Zeit, in der Ärzte Radium zur Behandlung aller möglichen Krankheiten empfehlen, und am Institut Curie in Paris sensationelle Heilungserfolge mit Radiumtherapien erzielt werden. Radiumspritzen sind das Botox der besseren Gesellschaft im New York der 1920er-Jahre, während sich in Europa Radiumbäder großer Beliebtheit erfreuen. Die Gefahren spielt auch die in den Vereinigten Staaten populäre Marie Curie immer wieder herunter.
Tödlicher Beruf
Besonders Frauen waren in den Uhrenmanufakturen als Zifferblattmalerinnen gefragt, ihrer »grazilen Hände« und »großen Geschicklichkeit« wegen. Tausende werden in den frühen 1920er-Jahren eingestellt. Denn die Nachfrage nach den Uhren, die nachts so zauberhaft leuchten, explodiert. Alleine 1920 produzieren die Uhrenfabriken in den USA vier Millionen Stück. Zeitgenössische Fotos zeigen die im Stil der Roaring Twenties frisierten, akkurat gekleideten jungen Frauen, die mit schmalem Kamelhaar-Pinsel die Leuchtfarbe auftragen. Ein von den Vorarbeitern empfohlener Trick, das Zuspitzen des Pinsels mit den Lippen, hilft dabei, einen feinen Farbstrich hinzulegen. Fünf-, sechsmal müssen die Pinsel »gespitzt« werden, um ein Zifferblatt zu bemalen. Sie verdienen in einer Fünfzig-Stunden-Woche etwa das Doppelte eines durchschnittlichen Arbeiterinnenlohnes. In der Nacht leuchten ihre Lippen und Münder. »Wir hatten ein gutes Leben, verdienten gutes Geld. Die Jungs standen auf uns«, erinnert sich Marie Rossiter 1987 im Dokumentarfilm »Radium City« an ihre Zeit als Zifferblattmalerin bei US Radium. Zwei Jahre nach der Ausstrahlung des Films war ihre Freundin tot, gestorben an den Folgen extrem hoher Strahlendosen in ihrem Körper. Den Zifferblattmalerinnen war von den Verantwortlichen stets versichert worden, sie hätten nichts zu befürchten, und es seien auch keinerlei Arbeitsschutzmaßnahmen nötig – obwohl schon damals allgemein bekannt war, welche Gefahren Radium in sich birgt, wenn es in den Körper gelangt.
Francis Splettstocher war eine der rund 4000 Arbeiterinnen, die die Zifferblätter bemalten. 1925 erkrankt sie an Anämie, einer durch Eisenmangel bedingten Blutarmut. Ihre linke Gesichtshälfte wird immer berührungsempfindlicher, Hals und Rachen schmerzen. Als akute Zahn- und Kieferschmerzen da-zukommen, sucht sie einen Zahnarzt auf. In ihrer linken Wange bildet sich ein Loch, das Gewebe beginnt sich aufzulösen. Niemand hat eine Erklärung. Nach vier Wochen qualvollen Leidens stirbt Francis Splettstocher 21-jährig. Die Todesursache ist ein Rätsel für die Ärzte. Ihr Vater, der auch in der Uhrenfabrik arbeitet, weiß es besser: Es sei das Radium, erklärt er, aber er werde den Mund halten, denn er wolle seinen Job nicht verlieren. 150 Kilometer entfernt, in Orange, New Jersey, sind vier junge Frauen eines ähnlich schrecklichen Todes gestorben, die in der Fabrik von US Radium gearbeitet hatten. Weitere acht waren zu diesem Zeitpunkt schwer krank. Die Firmenverantwortlichen wussten, weshalb die Frauen krank waren. Ein Gutachten, das sie in Auftrag gegeben hatte, ließ nur einen Schluss zu: Undark. Die Studie wurde jedoch nur stark verwässert veröffentlicht.
Korruption und Verleugnung vor Gericht
1927 verklagen die schwer kranke Grace Fryer und vier Mitstreiterinnen US Radium. Fryer hat in den Jahren 1917 bis 1920 Zifferblätter bemalt. Kurz darauf erkrankt sie. Kein Arzt kann ihr helfen. 1925 versichert ihr ein Arzt, sie sei vollkommen gesund. Er ist von US Radium bestochen. Das Verfahren zieht sich in die Länge und wird zum Wettlauf mit dem Tod der Klägerinnen. Am ersten Verhandlungstag, dem 11. 01. 1928, können nur drei der Klägerinnen teilnehmen. Grace Fryer hat alle Zähne verloren, sie kann nur dank einer Rückenstütze aufrecht sitzen. Keine der Frauen ist in der Lage, die Hand zum Schwur zu erheben. Sie betonen, sie seien vollkommen gesund gewesen, bevor sie mit der Arbeit bei US Radium begonnen hätten. Die Anwälte der Gegenpartei behaupten, die Frauen litten an psychischen Problemen: »Radium regt wegen seiner mysteriös erscheinenden Eigenschaften die Fantasie an, und nur darum geht es in diesem Fall.« Aus Frankreich äußert sich Marie Curie in einem Interview: »Ich wünschte, ich könnte helfen. Aber es gibt leider keinen Zweifel: Ist Radium einmal in den Körper gelangt, gibt es keinerlei Möglichkeit, es zu zerstören oder zu entfernen.« Im Rechtsstreit kommt es 1929 zu einem Vergleich ohne ein Schuldeingeständnis von US Radium. Die fünf Frauen erhalten je 10 000 Dollar und eine lebenslange Jahresrente von 600 Dollar. Der vermittelnde Richter ist selbst Aktionär von US Radium. Grace Fryer stirbt am 27. Oktober 1933 im Alter von 35 Jahren. 1935 sind alle Klägerinnen tot. An ihren Gräbern ist die Strahlung bis heute messbar.
Erste Vorsichtsmaßnahmen
Auch die Waterbury Clock Company gab nie zu, dass der Tod von Francis Splettstocher etwas mit ihrer Arbeit als Zifferblattmalerin zu tun hatte. Doch noch im selben Jahr wird, wie in den Fabriken von US Radium, das Spitzen der Pinsel mit den Lippen untersagt, und erkrankte Arbeiterinnen erhalten medizinische und finanzielle Unterstützung. In den Ateliers der Zifferblattmalerinnen werden Luftreinigungsanlagen installiert, die Angestellten tragen Gummihandschuhe, die Haare werden in Netze zusammengebunden. Ab dem 2. Mai 1941 gilt in den Vereinigten Staaten ein Grenzwert von 0,1 Microcurie pro Jahr für die maximal zulässige Belastung von Zifferblattmalerinnen und -malern. Dies entspricht nach heutiger Lesart etwa einer Dosis von 250 Millisievert. Wer in einem Atomkraftwerk arbeitet, darf maximal 20 Millisievert pro Jahr aufnehmen, die gesamte Dosis darf über die Jahre 400 Millisievert nicht überschreiten.
Wie viele Radium-Girls tatsächlich an den Folgen des Radiums in ihren Körpern gestorben sind, lässt sich kaum mehr ermitteln. Das Argonne National Laboratory begleitete über 2400 der Verstrahlten durch ihr Leben und untersuchte sie regelmäßig mit Röntgenapparaten und Blutproben. Danach lag die Sterblichkeit der Radium- Girls deutlich höher, als natürlicherweise zu erwarten gewesen wäre. Doch zu einer umfassenden Auswertung kam es nie. Das Forschungsprogramm wurde 1993 eingestellt.
Das Radium strahlt noch immer
Die meisten Fabriken, in denen sie gearbeitet hatten, sind abgerissen, die Gelände wurden um die Jahrtausendwende auf Staatskosten dekontaminiert. Die Gebäude der Waterbury Clock Company stehen noch. Die Räume wurden 2002 von den noch immer vorhandenen Spuren der einstigen »Quelle ewiger Jugend« befreit. Im Werksmuseum der Nachfolgefirma Timex bleiben Francis Splettstocher und Kolleginnen unerwähnt. Ihre Geschichte ist die Geschichte missbrauchter Unschuld. Die Leuchtziffern der Radium-Uhren sind längst erloschen, weil das Zinksulfid schon nach einigen Jahren nicht mehr auf die Bestrahlung reagiert. Doch das Radium strahlt noch immer – bei einer Halbwertszeit von 1600 Jahren noch über viele Jahrtausende. Uhrmacher lassen deshalb die Hände davon, oder sie arbeiten nur mit Schutzausrüstung. Wer in der Schweiz eine alte Uhr mit Leuchtziffern über den Hauskehricht entsorgt, macht sich denn auch strafbar. Sie müssen in gesonderten Sammlungen kostenpflichtig entsorgt werden.
Bildlegende: rechts: 1921 magazine advertisement for Undark, a product of the Radium Luminous Material Corporation which was involved in the Radium Girls scandal (Wikipedia)
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