Leben Hinterbliebene nach einem Suizid weiter, oder überleben sie bloß? Die emotionalen, gesellschaftlichen und nicht selten auch körperlichen Folgen nach einem Suizid stellt viele Zurückgelassene, insbesondere Familienangehörige, vor eine Zerreißprobe. Denn nimmt sich ein naher Angehöriger das Leben, fällt von einem Augenblick zum nächsten ein Element aus dem vertrauten System, die Grundmauern beginnen zu wanken, formieren sich neu – oder stürzen gar ein. Während sich die Anteilnahme bei einem solchen Schicksalsschlag vor allem auf die betroffenen Eltern oder Partner konzentriert, droht die Trauer der hinterbliebenen Brüder und Schwestern in Vergessenheit zu geraten. Obwohl sie nicht selten die Rolle des verbleibenden Pfeilers übernehmen, der letzten Freude und Hoffnung, die eine Familie fortbestehen lässt.
Durch Suizid verlor auch die 41-jährige Ärztin Silvia Widmer ihren Bruder.
»Geschwister sind immer da. Das ist eine Selbstverständlichkeit, glaubt man zumindest. Bei den Eltern verhält es sich anders. Als mein Vater 2002 an Bauchspeicheldrüsenkrebs starb, war ich sehr traurig. Doch sein Tod hielt die natürliche Reihenfolge ein, denn man geht grundsätzlich davon aus, dass die Eltern zuerst sterben. Als sich hingegen mein Bruder vier Jahre später das Leben nahm, zog mir dieses Erlebnis den Boden unter den Füßen weg. Meine Gefühle bei beiden Todesfällen unterscheiden sich komplett. Bei Thomas habe ich nicht nur getrauert, sein plötzlicher Tod erschütterte mein Selbstvertrauen: Nach seinem Suizid zog ich alles, woran ich bis zu diesem Zeitpunkt geglaubt habe, in Zweifel. Ich traute meinen Einschätzungen nicht mehr, weil ich seinen Zustand falsch beurteilt hatte. Das führte in mir zu einer tiefen Verunsicherung.
Sein Tod hat mir die Rollenverteilung unter Geschwistern bewusst gemacht. Wie schwierig es doch für die Jüngeren sein muss, sich zu positionieren. Ich, die vier Jahre ältere Schwester, hatte bei seiner Geburt eine bestimmte Rolle bereits inne. Vielleicht sind die Muster bei einer Zweierkonstellation noch ausgeprägter und auf ein Entweder-oder reduzierbar. Das eine Geschwister lehnt sich gegen alles auf, das andere sucht lieber die Harmonie. Thomas und ich unterschieden uns sehr. Ich war eine, die die Auseinandersetzung mit der Familie stets gesucht hat, insbesondere mit meinem Vater. Als junge Erwachsene engagierte ich mich auch politisch und lebte in besetzten Häusern. Er hingegen trat als 18-Jähriger ins Militär ein. Das führte zu absurden Konstellationen: Einmal demonstrierte ich gegen einen G20-Gipfel, und er leistet am gleichen Tag am gleichen Ort Dienst. Erstaunlicherweise aber haben wir kaum je über unsere Differenzen diskutiert. Wir schafften es, einander leben zu lassen in unserem Anderssein. Wir teilten nicht die gleiche Welt, und das war gut so. Macht nicht genau das auch eine Familie aus? Man ist mit Menschen tief verbunden, obwohl einen weder politisch noch thematisch dieselben Interessen vereinen.
Meine Selbstvorwürfe sind groß, ich seziere die Vergangenheit regelrecht. Letztlich sind es kleine Vorfälle – doch sie belasten mich. 2005, im Jahr vor seinem Tod, absorbierte mich mein Staatsexamen in Medizin. Bereits im Sommer bemerkten meine Mutter und ich, dass es meinem Bruder nicht gutging; er trank viel und war ausgebrannt. Beruflich war er seit Monaten stark eingespannt; seine Arbeit als Informatiker in der eigenen Firma forderte ihn stark, zusätzlich beschäftigte ihn ein großes Bauprojekt, in das er mit seiner Ehefrau involviert war. Diese hingegen begann in dieser Zeit eine neue Beziehung zu einem anderen Mann.
Am Telefon erzählte er mir von seinen Schwierigkeiten, bat mich um Rat und Hilfe. Getroffen habe ich ihn in dieser Zeit kaum, weil er dies nicht zuließ. Es schien, als ob er eine gewisse räumliche Distanz zu mir aufrechterhalten und sich vor der großen Schwester nicht allzu klein machen wollte. Vielleicht aber wagte ich es auch einfach nicht, seine scheinbar gesetzten Grenzen zu übertreten, und respektierte unsere ›Gepflogenheit‹: Wir telefonierten, statt uns persönlich zu treffen. Meine Mutter verhielt sich anders, sie ignorierte, wenn er sie abwimmelte, und besuchte ihn trotzdem. Im Nachhinein denke ich oft: Hätte ich doch einfach meinen Sorgen entsprechend gehandelt und wäre zu ihm gegangen.
Mein Bruder hat nach dem Tod unseres Vaters dessen Waffensammlung an sich genommen und bewahrte sie im Keller auf. Nie hätten meine Mutter und ich gedacht, dass ihm Vaters Jagdgewehre irgendwann zum Verhängnis würden, denn eine solche Tat hätte ich ihm nicht zugetraut. Es war gegen Abend des Neujahrtages, wir hatten von den Ferien aus schon mehrmals versucht, ihn zu erreichen, als meine Mutter anrief und meinte, etwas sei im Haus meines Bruders und seiner Frau geschehen, sie wusste aber nichts Genaues. Daraufhin rief irgendwann mein Onkel an und sagte, Thomas hätte sich erschossen. Hinterher ertrage ich es manchmal fast nicht, dass ich so naiv war und annahm, aus seiner Krise hätte es einen Ausweg gegeben. Mir war nicht bewusst, dass er so weit gehen würde.
In der ersten Zeit nach seinem Suizid hatte ich Mühe, Außenstehenden von seinem Tod zu erzählen. Es fühlte sich an, als trete ich aus einem Schutzraum heraus, als verletze ich die Intimität des Verstorbenen. Dabei verspürte ich stark das Bedürfnis, darüber zu sprechen. Doch das ist bei einem solchen Todesfall alles andere als einfach. Die meisten Leute waren total überfordert und hilflos, als ich von Thomas’ Tod erzählte; sie getrauten sich nicht, weitere Fragen zu stellen. Dabei wäre ich oft dankbar gewesen, hätte man nachgefragt.«
Auszug aus »Sorge dich nicht!«
Der Suizid (lat. caedium = Tötung, sui = seiner selbst (Genitiv), sui caedium = Tötung seiner selbst) gehört zu den häufigsten Todesursachen; allein in der Schweiz kommen statistisch gesehen jeden Tag vier Menschen durch Suizid ums Leben.
Die Verwendung des Begriffs »Selbstmord« anstelle von »Suizid« gilt als problematisch, denn einerseits ist der Terminus juristisch inkorrekt, andererseits wirkt er stark stigmatisierend, da Mord ein Verbrechen ist, eine strafbare Handlung. Die Bezeichnung »Freitod« wiederum suggeriert, dass die Person die Tat aus eigenem Willen vollzogen hat, was unter Fachleuten jedoch umstritten ist.
Die Selbsttötung existiert in allen Kulturen, unabhängig davon, ob sie gesetzlich verboten oder sozial beziehungsweise religiös geächtet wird.
Dass Suizidalität nicht nur ein Phänomen der heutigen Zeit ist, zeigt Homer, der in seiner »Odyssee« bereits 700 v. Chr. diese Thematik behandelte. Die Stoiker tolerierten ihn als Akt der freien Willensäußerung, und auch das durch die Stoa beeinflusste Römische Reich erlaubte den Suizid infolge von Trauer oder um eine andere Person zu retten. Im christlichen Mittelalter galt er als eine der schlimmsten Sünden, schlimmer noch als Mord. In der Folge wurde dem Verstorbenen eine kirchliche Bestattung verweigert. So war in epischen Werken des Mittelalters auch nichts von Selbsttötung zu lesen, ganz im Gegensatz zur Neuzeit, die das Thema in Theaterstücken wie Shakespeares »Romeo und Julia« verarbeitete. Die Philosophen der Aufklärung diskutierten das Problem kontrovers und vertraten verschiedene Auffassungen. Während der Suizid bei Denkern wie Montesquieu und Voltaire Verständnis und Rechtfertigung fand, lehnten u. a. Kant und Thomas Hobbes diesen vehement ab: Die Selbsttötung würde gegen den kategorischen Imperativ und das natürliche Selbsterhaltungsstreben verstoßen.
Die Ursachen für Suizid sind vielfältig. Nach heutiger Meinung gelten diagnostizierbare psychische Erkrankungen wie Depression, Psychose oder Schizophrenie als Hauptauslöser. Ferner können Suizide auch auf persönliche Lebenskrisen, Suchterkrankungen oder chronische Schmerzen zurückgeführt werden. Von Simona Triet
Bildnachweis: Einfach-Eve auf Pixabay
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