Rudolf Lutz [Bild] und ich [Iso Camartin] kennen uns von der J. S. Bach Stiftung in St. Gallen, deren musikalischer »Spiritus rector« und Dirigent er bis heute ist. Ich gehörte zur Schar jener Sprechenden, die dort aus Anlass einer Kantatenaufführung eine »Reflexion« zum Kantatentext und zur gegenwärtigen Weltlage beisteuern durften.
Etwas später haben wir zusammen einen Konzertabend in der Kirche San Lurench in Sent im Unterengadin über »Das Dramatische in Johann Sebastian Bachs Musik« gestaltet. Rudolf Lutz war für die ausgewählte Musik zuständig, ich für die Kommentare zu den vorgetragenen und eingespielten Chören und Arien aus Bachs Kirchenkantaten und Passionen.
Kurz danach fragte Rudolf Lutz mich, ob ich nicht versuchen wolle, für ihn ein Libretto zu einer Oper mit Musik von Johann Sebastian Bach zu schreiben. Die Abmachung war: Für Chöre, Ensembles und Arien sollte allein Musik von J. S. Bach selbst Verwendung finden. Die Rezitative wollte Rudolf Lutz im Stile Bachs und der Barockzeit neu dazu komponieren.
Ich fand die Idee bestechend, den Auftrag eine ehrenhafte Herausforderung und machte mich zuversichtlich an die Arbeit. Über ein Jahr lang vertiefte ich mich in die umfangreiche Bach-Forschung, hörte mir das Gesamtwerk von Bachs kirchlichen und weltlichen Kantaten an, seine Passionen und Oratorien, seine umfangreiche Instrumentalmusik, Concerti und Suiten, die so voller Tänze und Stimmungen sind, dass man sie sehr wohl auf der Bühne eines Opernhauses, zumindest als ein Tanzspektakel, vorstellen kann.
Daneben befasste ich mich mit der Entwicklung der Barockoper zu Bachs Lebzeiten und kam nach und nach zur festen Überzeugung: Je älter Bach wurde, umso mehr entfernte er sich von der immer modischer werdenden und von Stars und Divas geprägten Opernkultur der Fürstenhäuser und der Stadtopern in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Aufgrund meiner Auseinandersetzung wurde mir klar: Hätte Bach in seiner Leipziger Zeit für die Oper ein Werk komponieren wollen, so hätte er dies – nach einem ihm passenden Auftrag – sicher auch getan. Dass er dies nicht tat, wurde mir immer mehr zum Menetekel: »Lass die Finger von Experimenten, die aufgrund seiner Biografie und seiner beruflichen Interessen weder in Bachs eigenen Intentionen noch in seinen schöpferischen Plänen lagen!«
Dass J. S. Bachs Musik in Gegenwart und in Zukunft auch auf Theaterbühnen gehört, ist eine ganz andere Sache, von der ich nach wie vor fest überzeugt bin. Bei meinem Arbeitsbeginn war das Schlusskapitel meines Unterfangens noch als »Ein Libretto-Vorschlag« gedacht. In meinem entstandenen Buch ist es lediglich eine Ansammlung von allgemein gehaltenen Überlegungen, wie man sich Bach auf Opernbühnen heute vorstellen könnte.
Ich bin fest davon überzeugt, dass dies nur in einer engen Zusammenarbeit von Musiker:innen, Theaterleuten und Dramaturg:innen geschehen kann. Für solche Projekte braucht es ein Team von musikwissenschaftlichen Expert:innen, von theatererfahrenen Praktiker:innen und Gestalter:innen, aber auch von ausübenden Musiker:innen, die Bach ebenso lieben wie ich. Über eine J. S. Bach-Oper nachzudenken hat mir viel Erkenntnis-Freuden und Qualen eigener Defizite verursacht. Sich auf J. S. Bach einzulassen ist so beglückend wie niederschmetternd. Wie kann man diesem Genie je gerecht werden?
Ich bin ein schreibender Essayist, kein Musikwissenschaftler, kein ausgewiesener Kenner der ersten Hälfte des europäischen 18. Jahrhunderts in deutschen Landen. Über Monteverdis Opern nachzudenken und zu sinnieren macht mir ebenso Freude wie über Mozarts Kunst, Opern der vollendeten und uneinholbaren Art zu komponieren. Die Musik von Johann Sebastian Bach ist mir im Zeitalter ihrer leichten Zugänglichkeit zu einem beinah täglichen Lebenselixier geworden. In diesem Status eines »Liebhabers und Enthusiasten« lag meine ganze Legitimität, sich darüber Gedanken zu machen, weshalb Bach sich um bestimmte Arten von Musik in besonderer Weise gekümmert hat, während er andere gemieden hat, die zu seiner Zeit beliebt waren und in hohem Ansehen standen.
Wie nahe J. S. Bach freilich Meistern der Barockoper wie Vivaldi, Rameau, Telemann und Händel doch kam, wird dann unüberhörbar, wenn man sich seine musikalische Behandlung der ganzen Gefühlspalette barocken Weltempfindens vor Augen und Ohren führt. Für Freuden und Leiden, für Lobpreis und Jubel, für Scherz und Tadel, für Fröhlichkeit und Trauer, für Liebe und Lust hat er die ganze Skala unserer Affekte so erweitert wie kein anderer seiner gewiss hochbegabten Zeitgenossen im Opernfach. Seine Arien, Duette, Ensembles und Chöre sprudeln geradezu vor kecken Einfällen und unkonventionellen Überraschungen, ja Zumutungen an menschliche Stimmen und instrumentaler Kunstfertigkeit. In der Verwandlung weltlicher Fest- und Wohlklänge in solche spiritueller Frömmigkeit und Innigkeit konnte niemand auch nur annähernd ihm das Brot reichen. Man suche in der Barockzeit nach Vertonungen der Worte »Erbarme dich!« oder des lateinischen Wortes »Miserere!«, die die Hörenden in vergleichbarer Weise auf ihre eigene Unzulänglichkeit und Hilfsbedürftigkeit zurückwerfen, wie dies dem großen Meister gelingt.
Die Nachwelt ist mit den Dokumenten zur Privatperson des ehemaligen Thomas-Kantors beschämend schlecht umgegangen. Gottlob ist uns der große Teil seines musikalischen Schaffens erhalten geblieben. Die Forschungen des 19. Jahrhunderts, die erfolgreich bis heute fortgeführt werden, haben uns erlaubt, durch das Studium seines professionellen Umfeldes auch die Ausnahmeerscheinung besser zu erfassen, als die wir ihn empfinden, obwohl er ja aus einer an Umfang weiten Musikerdynastie stammte und in einer kirchen- und opernaffinen Zeit lebte.
Das Glück von uns Zeitgenossen besteht – neben dem Wissen, das wir aus der Bachforschung schöpfen können – besonders in der aufführungspraktischen Kompetenz von Solist:innen, professionellen Chören, Instrumentalist:innen der Höchstklasse und spezialisierten Orchesterformationen, die sich seit der Nachkriegszeit in besonderer Weise auch dem Werk J. S. Bachs widmen. Was in den letzten 70 Jahren an Interpretationserfahrung und -zuständigkeit im Umgang mit diesem Komponisten herangewachsen ist, macht uns als Bachfreunde zu begünstigten Menschen. Vor den Leistungen der modernen Bachforschung und der reichen Fülle von zeitgenössisch aufgeklärten Aufführungspraktiken, die uns Bach als ewig jungen und ewig neuen Künstler erleben lassen, kann man sich nur in Respekt und Dankbarkeit verneigen.
Das vorliegende Buch ist dem tiefsinnigen Musiker und Bach-Interpreten Rudolf Lutz gewidmet, der ebenso ein Tausendsassa-Virtuose und genialer Improvisator auf allen Tasteninstrumenten ist, die der liebe Gott unter der Himmelssonne auf Erden nicht verboten hat.
Iso Camartin
Bildnachweis: © J.S. Bach-Stiftung
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