Zu Urs Widmers »Föhn«
Der im Jahr 2003 verstorbene Literaturwissenschaftler und Komparatist Edward Said, bekannt für seine scharfsinnigen Analysen über den Orientalismus in den westlichen Kulturen und zusammen mit dem Dirigenten und Pianisten Daniel Barenboim der Mitpromotor des Musik- und Friedensprojektes »West-östlicher Divan«, hat sich in seinen letzten Lebensjahren intensiv mit der Frage des »Spätstils« in der Literatur und in der Musik befasst. Sein Buch »On late Style« erschien allerdings erst ein Jahr nach seinem Tod und löste eine lebhafte Diskussion über die ästhetischen Formen und Strukturen von Werken aus, die in der letzten Lebensphase von Schriftstellern und Komponisten entstanden. Said griff dabei auf einen Essay mit dem Titel »Spätstil Beethovens« zurück, den der Philosoph und Musikwissenschaftler Theodor W. Adorno bereits im Jahr 1937 verfasste und 1964 in den Sammelband »Moment Musicaux« wiederaufnahm, wodurch dieser neu ins Bewusstsein der intellektuellen Öffentlichkeit rückte.
Was Adorno an Beethovens Werken aus dessen später Lebenszeit diagnostizierte – an den letzten Klaviersonaten und Bagatellen, an der »Missa solemnis« und an den späten Streichquartetten –, war nicht harmonische Rundung, Abgeklärtheit und Wohllaut, sondern ganz im Gegenteil: Sperrigkeit und Widerständigkeit, Verweigerung der Erwartungen, Hervorhebung der Brüche und Risse, Heranführung an die Abgründe. Beethoven wollte in der Lesart Adornos uns am Ende seines Lebens durch Abbrüche schockieren, durch unzeitgemäßes kompositorisches Verhalten aufhorchen lassen, durch Provokation und Unversöhnlichkeit aufrütteln und vor den Kopf stoßen. Für Said wurde diese Deutung Adornos geradezu zum Schlüssel für den Zugang zu anderen Spätwerken großer Gestalten der Musik- und Literaturgeschichte. Er entwickelte aus diesem Deutungsmodell eine Reihe von Kriterien, mit denen man sich dem Spätstil eines Genies annähern kann. Man darf diese als Elemente einer Unnachgiebigkeit und eines Trotzes sehen, als exzentrischen Ausbruch, als gesteigerte Zumutung, als Kaskade von Fragmenten, als Risse in der Stimmigkeit, als Liebäugeln mit irritierenden Details. Spätkreative Geister wollen Spielverderber sein, wo zu leicht und zu schnell beruhigende Feierlichkeit und harmlose Heiterkeit sich einschleichen könnten. Diese »Endspiel-Prozeduren« sollen uns verstören, den Zeitgeist aufschrecken, ja, diesen sogar beleidigend herausfordern.
Wer Urs Widmers letztes Werk in die Hand nimmt, kann gar nicht anders, als an Saids Überlegungen anzuknüpfen. Natürlich haben wir es hier in der dramatisch-musikalischen Realisierung dieses Bühnenprojektes zusätzlich mit den Musikern Fortunat Frölich und Christian Zehnder zu tun, die bei der Ausgestaltung des Werkes dieses entscheidend mitprägen. Die Buchedition erlaubt uns, auch ihre Überlegungen zum Projekt nachzuvollziehen. Die beigelegte CD macht es sogar möglich, die Realisierung von Widmers kühnem Libretto durch die Komposition und die szenischen Entscheidungen Schritt um Schritt zu vollziehen. Dass Urs Widmer nicht nur ein grandioser Erzähler war, sondern auch über ein gewaltiges Theatertalent verfügte, wusste man seit Langem. Sein auf ironische Zuspitzungen bedachter Sinn, sein Gusto für widersprüchliche Verhaltensformen, das virtuose Spiel mit den konfliktbeladenen und schwer zu versöhnenden Begierden und Trieben seiner Figuren kannten wir aus früheren Theaterprojekten. In diesem letzten Werk treibt Widmer nun mit einem Mythos produktiven Unfug. Man könnte auch sagen, dass so, wie Naturgewalten den Menschen zum Spielball des Schicksals machen, der Autor Widmer hier mit den Erscheinungsformen des »Föhns« seine Spiele treibt und uns Leser in das Spektakel seiner Erscheinungsformen verwickelt.
Wer in einem Bergtal der nördlichen Alpen aufgewachsen ist, weiß um die Unerbittlichkeit der Naturgewalten. In meiner Erinnerung ist dabei der Föhn als ein Bote des Südens immer ein willkommener Gast gewesen. Es sei denn, er kam, wenn irgendwo ein Haus oder ein Stall brannte. Natürlich auch dann, wenn er der Vorbote von Regenstürmen der bedrohlichen Art und von Verwüstungen durch Hochwasser und Rüfengängen war. Auch erinnere ich mich, dass meine Mutter ihn als den Schuldigen für ihre Migräne hielt. An sich aber war gegen den Föhn und seine Macht nichts zu sagen. Für unsere Augen fegte er den Himmel frei und sorgte für Klarsicht und Lichtwunder. Er wärmte das Tal und befreite die Landschaft wirksam von Eis und Schnee. Aus dem bündnerromanischen Märchenbuch kannten wir den Föhn als mächtigen Helfer jugendlicher Helden, die der Ansicht waren, das Glück liege ganz weit weg und ganz hoch oben, wo man nur mithilfe starker Winde hinkam.
Das freilich sind kindliche Vorstellungen, die beim Erwachsenen nach Ergänzung verlangen. Wenn sich ein Kopf wie Urs Widmer diesem Naturphänomen zuwendet, tauchen ganz andere Dimensionen der Föhnwahrnehmung auf. Und das ist das Faszinierende an diesem Spätwerk unseres Autors: dass hier Föhn-Fragmente aus allen Erfahrungs- und Erlebnisschichten des Menschen in den Windstrom des Lebens gesogen werden, sodass auch die Dunkel- und Schattenbereiche des Daseins aufgewühlt werden und in Schwung geraten: die Ungewissheit, die Sexualität, die Besitzgier, der Hass, die Wut, der Tod. Um dies alles in seiner Vielgestaltigkeit in Bilder zu fassen, spielt Widmer auch mit der Sprache, erfindet geradezu einen neuen Schweizerdialekt für vom Föhn ergriffene, ja besessene Männer und Frauen. Der Föhn ist als jene mythische Kraft gestaltet, die Jung und Alt geradezu »außer sich« bringt: beim Lachen und Weinen, bei Schmerz und Genuss, beim Stöhnen und Trotzen aus Liebe oder aus Wut. Urs Widmer ist mit dieser Föhn-Expertise nichts Geringeres als die Phänomenologie einer Naturgewalt gelungen. Sie ist Teil einer Poetik des Unheimlichen, die das Leben aus aller Behaglichkeit und Bequemlichkeit hinauskatapultiert. Wer sich mit den Naturgewalten einlässt, kommt um einen Totentanz nicht herum, er sieht dem Tod ins Auge, selbst wenn er diesem nochmals von der Schippe springen sollte.
Widmer hat mit diesen letzten Textfragmenten ein sprachliches Ritual vorgelegt, wie der Mensch dem Unausweichlichen redend, schreiend, jubelnd, wimmernd, singend, tanzend, schweigend und letztlich unterliegend zu begegnen vermag. Dieses Buch ist keine Therapieanweisung zum Überleben. Es ist eine eindrückliche Spätstil-Schilderung der Tatsache, dass der Mensch im Angesicht der Naturgeschichte und der Naturgewalten nur eine kleine Episode sein dürfte, wenn auch eine, die unsere Aufmerksamkeit verdient.
Iso Camartin: geboren 1944 in Chur, Essayist und Autor, war von 1985–1997 ordentlicher Professor für rätoromanische Literatur und Kultur an der ETH und an der Universität Zürich. Er lehrte und forschte über sprachlich-kulturelle Minderheiten und über die Kulturgeschichte des Alpenraums.
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