Der Verein Crescenda bildet seit zehn Jahren Migrantinnen zu Unternehmerinnen aus. Das Crescenda-Modell setzt auf die soziale und berufliche Integration und richtet den Fokus auf die Fähigkeiten und das Wissen der Migrantinnen. Ein Gespräch mit Dr. Béatrice Speiser, Gründerin von Cresenda.
FAKTEN
2004 Gründung von Crescenda
2005 Durchführung des Pilotkurses
2007 Schweizerischer Integrationspreis
2008 Eduqua-Zertifizierung
Über 60 Unternehmen wurden gegründet und weitere Erfolgsgeschichten wie beispielsweise erstmalige Stellenantritte oder Beförderungen initiiert.
Was hat Sie veranlasst, Crescenda zu initiieren?
Ich habe in den 1990er-Jahren Frauenprojekte in Indien besucht und dabei die Bedeutung der Einfrau-Unternehmen kennengelernt. Etliche Jahre später ha-be ich während eines Abendessens mit einer Kollegin überlegt, weshalb diese Erfahrungen nicht situationsadäquat für die hiesigen Integrationsbemühungen fruchtbar gemacht werden. Aus diesen Überlegungen ist schließlich Crescenda entstanden.
Warum richtet sich Crescenda ausschließlich an Migrantinnen?
Migrantinnen befinden sich durch ihre Einwanderung in einer speziellen Lebenssituation. Oftmals werden ihre Diplome nicht anerkannt, sie fühlen sich vom veränderten sprachlichen, kulturellen und regulatorischen Umfeld verunsichert und leben weit weg von ihrer Herkunftsfamilie. Häufig bekunden eingewanderte Frauen vor allem in den ersten Jahren Mühe, sich ein neues – informelles wie auch formelles – Netzwerk aufzubauen. Wenn sie sich zudem in der schwierigen Situation einer Scheidung oder einer Trennung befinden, verschärft sich ihre berufliche und sozial isolierte Lage noch. Nicht selten sind schließlich gesundheitliche Beeinträchtigungen die Folge dieser Abwärtsspirale. Weil es außerdem wissenschaftlich erhärtet ist, dass Frauen anders – weniger risikofreudig – an die Gründung eines Unternehmens herangehen als Männer, ist es sinnvoll, ein Angebot zu haben, das sich ausschließlich an Migrantinnen richtet.
Inwiefern hat sich Ihre Perspektive nach zehn Jahren verändert?
Ich habe erst im Laufe dieser zehn Jahre die tiefere Problematik rund um das Thema »Migrantinnen und Erwerbstätigkeit« wirklich in ihrer ganzen Komplexität verstanden. Meine Perspektive hat sich in diesen Jahren nicht geändert, doch ich habe mehr und mehr die Wichtigkeit eines umfassend gelebten Potenzialansatzes, einer eigentlichen Empowerment-Philosophie erkannt.
Welche Bedeutung hat Arbeit für Migrantinnen?
Zunächst einmal hat Arbeit für Migrantinnen genau die gleiche vielfältige Bedeutung wie für Einheimische. Hinzu kommt allerdings ein sehr wesentlicher integratorischer Aspekt: Arbeit bedeutet und bewirkt Partizipation an der hiesigen Gesellschaft!
Warum favorisieren Sie die Selbständigkeit gegenüber einem Angestelltenverhältnis?
Ich favorisiere keineswegs generell und in jedem Fall die Selbständigkeit. Es ist bloß so, dass aufgrund der speziellen Situation der Migrantinnen – insbesondere mangelnde Diplomanerkennung, sprachliche und kulturelle Unsicherheiten oder auch die spezifische familiäre Situation – eine selbständige Erwerbstätigkeit die beste, wenn nicht die einzige Möglichkeit bildet, die eigenen Ressourcen im hiesigen Erwerbsleben zur Entfaltung zu bringen. Wir haben außerdem die Erfahrung gemacht, dass das Ziel einer Unternehmensgründung, gerade für traumatisierte Flüchtlinge, oftmals ein entscheidender Antrieb sein kann, sich wieder vermehrt der Zukunft zuzuwenden und das eigene Leben in die Hand zu nehmen.
Zudem bin ich davon überzeugt, dass eine umfassende, individuell abgestimmte, aber in einer Gruppe stattfindende Vorbereitung für eine Unternehmensgründung immer auch ein Integrationsprozess ist: im Erfahren um die sich erweiternde Handlungsfreiheit, im sich Austauschen mit »Schicksalsgenossinnen« und im Erleben, dass persönliches Wachstum auch auf fremdem Boden stattfinden kann.
Was funktioniert gut und wo bedarf es eines Umdenkens innerhalb der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die Berufstätigkeit von Migrantinnen in der Schweiz?
In vielen Bereichen hat sich in den letzten Jahren eine positive Entwicklung gezeigt: So hat sich der Fürsorgestaat zu einem aktivierenden Sozialstaat gewandelt, die Ausländerpolitik entwickelte sich zu einer Integrationspolitik, und in der Arbeitswelt ist die Bedeutung der Berufsbildung erkannt worden. Wünschenswert wäre es in einem nächsten Schritt, in allen drei Bereichen eine umfassende und konsequente Verwirklichung des Potenzialansatzes anzustreben.
Im Grunde genommen leben wir in einer paradoxen Situation: Während wir regelmäßig ganz gezielt Fachkräfte aus dem Ausland beiziehen, weil es an entsprechend Qualifizierten im Inland mangelt, betrachten wir die bereits hier wohnhaften Ausländer oftmals durch eine skeptische, kritische Brille. Es heißt dann, die sprachlichen Fertigkeiten genügen nicht, die Ausbildung im Ausland sei nicht gleichwertig mit einer inländischen und vieles mehr.
Schließlich ist festzustellen, dass zahlreiche Migrantinnen gemäß »offiziellen« volkswirtschaftlichen und insbesondere arbeitsmarktrelevanten Erhebungen nicht existent sind. Sie werden es erst, wenn sie arbeitslos oder gar von der Sozialhilfe abhängig sind, also wenn die Abwärtsspirale bereits begonnen hat.
Wäre es da nicht viel klüger, insbesondere auch aus volkswirtschaftlichen Überlegungen, diesen Menschen frühzeitig auf Augenhöhe zu begegnen und sie dahingehend zu unterstützen, dass sie ihre vielfältigen Ressourcen möglichst adäquat im hiesigen Erwerbsleben einsetzen können?
Bildnachweis: © Romeo Polcan
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