Die meisten Menschen mit demenziellen Veränderungen nehmen emotional sehr viel von ihrer Umgebung wahr. Sie sind bei fortgeschrittener Demenz den Reizen der Umwelt aber oft ungeschützt ausgesetzt, weil sie das Wahrgenommene nicht mehr über ihre kognitiven Fähigkeiten lenken oder einordnen können. Deshalb brauchen diese Menschen eine »Medizin«, in der sie das Unerklärliche über den Körper ausdrücken können und Zentrierung auf sich selber erfahren.
Von Demenz betroffene Menschen erhalten durch körperorientierte, künstlerische Gestaltung eine nonverbale Ausdrucksform, die dort ansetzt, wo rationales, intellektuelles Denken nicht hinreicht: in das tiefe eigene Innere, die Seele oder den persönlichen Kern. Es ist der Kern, der trotz allen anderen Verlusten nicht verloren geht. […] Oft sind die Malenden selber überrascht und erfreut ob ihrem eigenwilligen und sichtbaren Ausdruck, und ich staune immer wieder von Neuem, welche unvoreingenommene Lebenskraft sich in den Bildern zeigt. Viele Malende können sich mit großer Intensität den Farben und Formen hingeben, mit »Leib und Seele bei der Sache sein« und sich in den schöpferischen Dialog mit sich selber begeben. Gelingt dies, wirkt sich dieser Prozess auch heilsam auf Leib und Seele aus. Einerseits, weil das selber Geschaffene zutiefst befriedigt, und andererseits, weil die körperliche Einstimmung und die kräftigen Farben durch die bewegte Hingabe die Selbstwahrnehmung unterstützen und dadurch den Geist und die Seele beleben. Selbst wenn die äußere Bildspur im Nachhinein in Vergessenheit gerät, bleibt die körperliche und geistige Wirkung. Einer inneren Orientierungslosigkeit wird für einige Momente Boden und Anker geschenkt, was am gemeinsamen Lachen und der lebhaften Kommunikation, die oftmals im Anschluss an den Malprozess stattfindet, beobachtbar ist. […]
Am Beispiel des Begleiteten Malens kann ein Einblick davon gewonnen werden, wie Menschen mit Demenz ihre Persönlichkeit über Farben und Formen ausdrücken oder sich mit ihrer Lebenssituation und ihrer veränderten persönlichen und fremden Wahrnehmung auseinandersetzen. In diesem Sinne ist das Begleitete Malen keine Therapie, sondern Hilfe zur Selbsthilfe und Lebensfreude.
Auszug aus: »demenz. Fakten Geschichten Perspektiven«
Bildlegende: Malend zur Frage: Bin ich noch der, der ich bin? rechts: Mit großer Sensibilität gemaltes letztes Bild einer demenzkranken Frau kurz vor ihrem Sterben. Sie sagt dazu: »Jetzt ist die Blume geknickt.«
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