Franz Hohler war im Laufe seiner Karriere in vielen Ländern auf allen Kontinenten unterwegs. Seine einzige China-Reise unternahm er mit einer Gruppe von Schweizer Kulturvertreterinnen und -vertretern, als das Land eben daran war, sich nach der grausamen und bleiernen Zeit von Maos Kulturrevolution vorsichtig zu öffnen.
Initiiert und mitorganisiert wurde die Exkursion im Herbst 1982 vom Berner Kulturjournalisten Daniel Leutenegger. Er leitete damals – gerade erst 27-jährig – die Kulturredaktion der »Berner Zeitung« und machte mit seinen Kolleginnen und Kollegen daraus für ein paar Jahre einen der witzigsten, originellsten und ideen-reichsten Kulturteile in Deutschschweizer Zeitungen. Wie da die Kulturschaffenden einbezogen und welch überraschende Formen der Berichterstattung gefunden wurden, war einzigartig.
Es war ein bunter Haufen, der sich am 22. September 1982 auf die Reise nach China machte. Daniel Leutenegger hatte Vertreterinnen und Vertreter aus verschiedenen Sparten angefragt: Clown Dimitri mit Frau Gunda, die Kabarettisten Franz Hohler und Kaspar Fischer, Rocksänger Polo Hofer, die Schriftstellerin Madeleine Santschi und die Journalistin Isabelle Guisan, Malerin und Zeichnerin Nell Arn, Jazzmusiker Mani Planzer, Fotograf Edouard Rieben, Architekt Hans-Rudolf Abbühl, Monika Coray, die Vizepräsidentin der Freundschaftsvereinigung Schweiz–China und Daniel Leutenegger selbst. Ich durfte als Vertreter der Liedermacher mitreisen, die damals mit ihren Gitarren (und ich auch noch mit einem Hackbrett) die Kleinbühnen der Schweiz unsicher machten.
Zwar spürten wir, dass China die Tür zur Außenwelt einen kleinen Spalt geöffnet hatte, aber wir hatten häufig das Gefühl, nicht nur in einem fremden Land oder Kontinent, sondern in einer fremden Welt gelandet zu sein. Jeden Tag gab es neues Unbekanntes zu sehen, zu hören, zu riechen, zu kosten, zu bestaunen. Und weil wir eine (allerdings inoffizielle, sich selbst finanzierende) Kulturdelegation waren, hatten wir einige besondere Vorrechte: So durften wir den Stars der Pekinger Oper nicht nur auf der Bühne, sondern auch beim Training zuschauen, konnten den Ensemblemitgliedern der Sichuan-Oper in Chengdu indiskrete Fragen über ihre Berufsgeheimnisse stellen, erhielten ein Privatkonzert von Musikern aus Kunming und durften in Shanghai das berühmte Konservatorium besuchen sowie an verschiedenen Orten stundenlang mit Künstlern aus allen unseren »Branchen« sprechen.
Unterschiedliches Humorverständnis
Wir bedankten uns jeweils mit Kurzauftritten für die Vorführungen der chinesischen Kolleginnen und Kollegen. Dimitri beispielsweise bastelte sich aus Zweigen eines Buschs vor dem Hotel und aus Fischgräten Stäbe, wie chinesische Artistinnen sie verwenden, um Teller kreisen zu lassen. Mit den improvisierten Stäben und mit Tischtennisbällen persiflierte er unsere Schwierigkeiten mit Essstäbchen. Dann ließ er die Teller tatsächlich auf den Stäben kreisen und jonglierte dazu die Tischtennisbälle mit dem Mund. Kaspar Fischer entwickelte auf großen Papierbogen aus den chinesischen Schriftzeichen für Pferd, Kamel, Hund und Papagei Zeichnungen dieser Tiere und schlüpfte als Pantomime dann gleich in die entsprechende Tierrolle.
Franz Hohler hatte auf Chinesinnen und Chinesen eine mindestens so große Wirkung wie der legendäre Vorgänger auf die Ratten in Hameln.
Solch ungewohnte Verbindungen zwischen europäischen und chinesischen Künsten lösten bei den Gastgebern große Begeisterung aus – auch wenn wir oft konstatieren mussten, dass das Humorverständnis auf beiden Seiten nicht immer dasselbe war. Franz Hohler schaffte solche Verbindungen sogar sprachlich: Er übte mit unserer Dolmetscherin seine Kurzgeschichte »Das Ektische« von der ektischen Sprache und sein Lied von der Hausmusik (»Die Macht der Musik«) ein und gab mit ihr eine zweisprachige Vorführung. Die Dolmetscherin setzte ihre Übersetzungen präzise in die Pausen von Franz’ Gesang hinein und gab dabei auch alle Wiederholungen wieder (»Und dann macht ein bisschen Hausmusik, Hausmusik, Hausmusik – Und dann macht ein bisschen Hausmusik!«). Bis heute habe ich nicht vergessen, dass »Hausmusik« auf Chinesisch zháizi yīnyuè heißt (in meiner Erinnerung und Behelfsbuchstabierung »tsaatsi jinie«). Der geniale Sprachspieler Hohler schaffte es sogar, aus der in den vier Städten Beijing, Chengdu, Kunming und Shanghai jeweils sehr unterschiedlichen Aussprache des chinesischen Wortes für »Fisch« ein Wortspiel zu basteln, das auch die Chinesen zum Lachen brachte. Mit seinem Cello und meinem Hackbrett spielten wir schließlich an verschiedenen Orten von Mani Planzer arrangierte Schweizer Melodien und begleiteten Polo Hofer, der seine erstklassigen Jodelkünste unter Beweis stellte und mit Löffeln und Perkussion auf allen möglichen Körperteilen virtuos an seine frühere Karriere als Schlagzeuger anknüpfte.
Große und kleine Virtuosen
Am eindrücklichsten war jedoch Hohlers und Kaspar Fischers Eintauchen in die fremde Welt. Fischer war in seinem frisch erstandenen Mao-Anzug und -Mütze und seiner perfekten Körpersprachenimitation kaum noch von den Chinesen zu unterscheiden. Und Franz Hohler machte bei einem frühmorgendlichen Ausflug in die Shanghaier Innenstadt intensiv bei den öffentlichen Tai-Chi-Übungen mit. Er fiel allein schon durch seine Körpergröße auf. Umso mehr Interesse weckte er, als er einen alten Mann, der Übungen mit einem Holzschwert zeigte, zum Vorbild nahm und alle Bewegungen nachzuahmen versuchte. Nahm er seine Blockflöte hervor, hatte er mit den virtuos geblasenen Stücken auf Chinesinnen und Chinesen eine mindestens so große Wirkung wie der legendäre Vorgänger auf die Ratten in Hameln. Ein Foto zeugt noch immer davon.
In Shanghai besuchten wir am Sonntagvormittag auch den »Kinderpalast«: In einem protzigen Gebäude aus der europäischen Kolonialzeit durften besonders talentierte Kinder ihre speziellen Fähigkeiten ausüben. Das reichte von technischen Bastelübungen über Tischtennis und Töpferei bis zu Ballett und Musik; ein zehnköpfiges Teenager-Akkordeonorchester etwa intonierte virtuos und mit großem Ernst »An der schönen blauen Donau«. Die Theatergruppe für die Kleinsten zeigte uns ein Stück, in dem die einen Blumen, die anderen Gärtner spielten: Die kauernden »Blumen« wuchsen langsam in die Höhe, wenn sie von den »Gärtnern« aus Papierkannen »begossen« wurden. Und alle gemeinsam kreischten vor Begeisterung, als Gärtner Kaspar Fischer die Blume Franz Hohler so hoch wachsen ließ, dass auch drei der Dreikäsehochs gemeinsam nicht so hoch hinaufgereicht hätten. Und dann tanzten die beiden Fremden mit den Kindern vor Freude.
Freundschaftsbäume und Literaturskandal
Wie das auf Gruppenreisen oft vorkommt: Irgendwann gibt es Meinungsverschiedenheiten und Missstimmungen. Auf dieser Reise war das nicht anders. Beispielsweise als Franz Hohler in Kunming die Idee in die Tat umsetzte, die Kamelienbäumchen mit der Beschriftung »Freundschaftsbäume Kunming–Zürich« vor dem Rathaus zu begießen. Diese waren acht Monate zuvor im Februar 1982 von einer Zürcher Delegation gepflanzt worden – anlässlich der Unterzeichnung des Freundschaftsvertrags mit der chinesischen Stadt durch den Stadtpräsidenten Sigmund Widmer. Franz schlug vor, dem neuen Stadtpräsidenten Thomas Wagner eine Karte zu schicken und ihn über unsere Bewässerungsaktion zu informieren – mit einem sanft ironischen Text über Kulturförderung in Zürich und Kunming.
Mani Planzer war mit der Idee gar nicht einverstanden. Nach den harten Reaktionen der Stadtregierung auf die Demons-trationen von 1980 und 1981 dürfe man sich nicht so anbiedern, fand der Musiker und löste eine hitzige Diskussion über Kritik und Anpassung in der kulturellen und politischen Schweiz aus. Eineinhalb Monate nach unserer Rückkehr in die Schweiz wurde diese Diskussion dank Franz Hohler und der Zürcher Kantonsregierung in der ganzen Deutschschweiz geführt – weit lauter als von uns in Kunming: Ende November 1982 verweigerte der Regierungsrat nämlich dem Kabarettisten und Schriftsteller eine Ehrengabe von 5000 Franken für seinen neuen Erzählband »Die Rückeroberung«. Eine offizielle Begründung gab es vorerst nicht, aber der Grund war für die meisten klar: Franz Hohler hatte sich ein Jahr zuvor in einer »Denkpause«-Sendung am Schweizer Fernsehen kritisch mit der Kernenergie auseinandergesetzt und damit eine Flut von Beschwerden ausgelöst. Die fünfköpfige kantonale Literaturkommission trat aus Protest gegen dieses Diktat der Regierung geschlossen zurück, und 24 der 30 Ausgezeichneten aus allen Sparten teilten ihren Preis mit Franz Hohler, der das Geld umgehend an die Sozial- und Al-tershilfe des Schweizerischen Schriftstellerverbandes und die Mindesthonorar-Garantiekasse des Schriftstellerverbandes »Gruppe Olten« weitergab. An der inoffiziellen Feier im Anschluss an die Preisverleihung sagte Franz Hohler: »Wenn ich ›Kaiseraugst‹ in den Wald rufe und das Echo ›Kaiseraugst‹ zurückkommt, so verstehe ich das. Wenn ich aber ›Die Rückeroberung‹ rufe und es kommt ›Kaiseraugst‹ zurück, dann glaube ich nicht richtig zu hören.«
Der Kulturredaktor und China-Reisende Daniel Leutenegger schrieb in der »Berner Zeitung« am Ende seines Kommentars zur Preisverleihung: »PS: Lieber Franz, auf der China-Reise schweizerischer Kulturschaffender haben sich die meisten von uns ein bisschen über Dich gewundert oder gar geärgert: Du warst unbedingt dafür, dass die Zürcher Künstler in Kunming, der Zürcher Partnerstadt in China, die von Sigi Widmer gepflanzten Freundschaftsbäumchen begießen. Du hast’s dann fast alleine getan. Ich muss sagen, Du hast damit gezeigt, was Solidarität mit Andersdenkenden heißen könnte.«
Bildnachweis: © Martin Hauzenberger
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