Ende September 2021 erhielten wir eine Anfrage der Autorin Ursula Eichenberger. Sie hatte vor, ein Buch über ein Geschwisterpaar zu schreiben, bei dem eines der Geschwister schwer krank war. Sie wollte wissen, ob wir als Familie an diesem Projekt teilnehmen. Mein Mann und Tristan sowie sein Bruder Anton haben wie ich nach kurzer Überlegung zugestimmt; in der Hoffnung, dass dieses Buch Familien mit schwer kranken Kindern helfen kann.
Es wurde ein langer Prozess – für Ursula Eichenberger wie für Tristan. Viele Gespräche: tiefe, emotionale und zum Teil sehr schwierige; es war ein schmerzliches Zurückgehen zu den damaligen Erlebnissen, aber immer wieder gab es auch schöne Momente.
Nun liegt das Buch vor uns, und wir sehen im Rückblick, wie die Gespräche unseren Seelen geholfen, sie sogar geheilt haben. Wir reden heute einfacher als zuvor über viele Sachen aus der Zeit, als Tristan krank war; es ist fast, als ob man über einen Film spricht, den man gemeinsam geschaut hat.
Man fragt sich womöglich, wie es für uns gewesen sein muss, sich so offen für ein Buch zu äußern. Das lässt sich nicht einfach beantworten. Natürlich war es ab und zu schwierig, aber wie soll man anderen Menschen helfen, wenn man sich nicht öffnet? Dies gilt besonders für Tristan: Ihm geht es immer darum, anderen zu helfen.
Wenn man sich in der Situation befindet, dass das eigene Kind fast stirbt und zudem seine ganze »Normalität« verloren hat, da entstehen die verrücktesten Gedanken, Gefühle, Träume. Es ist bestimmt schwer vorstellbar, wie es ist, wenn man bis ins kleinste Detail von der Beerdigung des eigenen Sohnes träumt: Bekannte, Familie, Freunde stehen da und kondolieren, der Sarg mit Blumen, die Musik, die weißen Hände des toten Kindes …
Ebenso wenig kann man sich wohl kaum vorstellen, wie man sich wünschen kann, dass das Kind wirklich stirbt! Dies ist jedoch ein ganz normales Gefühl bei Eltern mit einem schwer kranken Kind, das fast keine Aussicht auf Genesung hat. Das darf kein Tabu sein; man muss unbedingt mit jemandem darüber sprechen können.
Man fragt mich oft, woher ich die Kraft für all das hatte. Doch die gibt es nicht, man agiert einfach. Tag für Tag, Schritt für Schritt. Menschen, die Schmerz und Verlust erlebt haben, wissen, dass man in solchen Ausnahmezuständen ganz automatisch weitermacht; wodurch es passieren kann, dass man zusammenbricht und mit Burn-out, Depressionen oder anderem kämpft. Wenn es kein Licht am Ende des Tunnels zu geben scheint, fühlt man sich wie mitten in der Strömung eines Flusses: Man treibt mit, und von außen wagt sich keiner zu nähern. So macht man einfach weiter.
Ehemalige Kollegen, Freunde, Bekannte, alle wollten zeigen, dass sie für uns da sind. Oft hatten sie aber Angst, nicht die richtigen Fragen zu stellen oder etwas Unpassendes zu sagen. Immer wieder gab es Menschen, die uns unterstützten: die Brot oder Suppe vorbeibrachten, sich während der schlimmsten Zeit um Anton kümmerten, Karten und Briefe schrieben oder gar, wie die Großeltern, bei den Bestrahlungstherapien dabei waren. Das werden wir diesen Menschen nie vergessen. Das gilt vor allem für die Einwohner von Bubikon, denen wir sehr dankbar sind.
Ein Glück für uns Eltern war auch, dass das Kinderspital Zürich ein Ort ist, an dem Vertrauen und Zuneigung stets spürbar sind, egal ob vonseiten der Professoren, Spezialistinnen, Ärzten oder Krankenschwestern. Ohne sie hätten wir dies alles nicht durchgestanden. Alle, und ich meine wirklich alle: Vom Reinigungspersonal bis zur Ärzteschaft waren alle unglaublich unterstützend. Ich kann nicht genug betonen, wie wichtig das für uns war, denn selbst für die engere Familie war es unmöglich, wirklich nachzuvollziehen, was da alles vor sich ging.
Wenn man sein Kind über alles liebt, hat man die Energie für all das, was in den nachfolgenden Jahren anstand. Unzählige Therapien, Untersuchungen und Arztgespräche, aber auch die vielen Schulwechsel waren anstrengend. Egal, schließlich ging es um unseren Tristan.
Von Trauer und Hoffnung
Unsere Familie ist nicht religiös, daher konnten wir all unseren Emotionen, inklusive Ängsten, Sorgen und Zweifel, nicht mit dem Glauben begegnen. Nicholas, der Vater von Tristan, hat stattdessen viel gearbeitet, um sich etwas abzulenken. Ich selbst wollte damals keinen Psychologen aufsuchen, da ich jede Sekunde bei meinen Kindern sein wollte. Zeit für mich allein hatte ich wenig. Immer gab es Leute um mich herum, im Kinderspital, in den Schulen, in der Reha; laufend gab es Gespräche mit Ärzten, mit anderen Eltern schwer kranker Kinder, mit Krankenschwestern, Therapeuten, Schulbehörden, IV usw. Meine ganz persönliche Auszeit waren kleine Reisen nach Italien. Drei, vier Tage pro Jahr in Florenz oder Rom haben mir etwas Luft verschafft, sodass ich mich erholen konnte. In Parks habe ich das großartige Licht genossen und der Musik in der Sprache der Einheimischen gelauscht. Ich kann den Eltern von schwer kranken Kindern nahelegen, ihren Bedürfnissen zu folgen und auf ihre Gefühle zu hören.
Manchmal möchte ich das Schicksal persönlich anschreien, dafür, dass unser achtjähriges, lebensfreudiges, glückliches Kind mit diesem schweren Tumor belastet und ihm somit eine unbeschwerte Kindheit genommen wurde. Die Wut auf das Schicksal ist oft groß; nichts anderes hat die Macht, ein Leben von einem Tag auf den nächsten so zu verändern. Was in diesem Zusammenhang bestimmte Begriffe für eine Mutter bedeuten können:
Hoffnung: Die Hoffnung ist ganz klar, dass das Kind überlebt, und man spürt, dass dies von vielem abhängig ist: von fähigen Ärzten, aber auch von der Liebe, die ihm entgegengebracht wird.
Trauer: Trauer äußerte sich im wiederkehrenden Traum von Tristans Beerdigung, der mich schweißgebadet aufwachen ließ. Auch weinte ich sehr oft an Tristans Seite, was ich nicht tun wollte, aber das ließ sich nicht steuern.
Liebe: Die größte Liebe in der Welt ist meiner Meinung nach die Liebe einer Mutter und die eines Vaters zum Kind. Ich würde mein Leben dafür hergeben, dass es wieder vollkommen gesund wird.
Zukunft: Den Zukunftsschimmer zu erkennen macht mich glücklich; zu sehen, dass Tristan dabei ist, seinen Weg zu finden. Ich beginne mir Gedanken zu machen, was ich selbst im Leben noch möchte. Ich denke, dass es wichtig ist, nach dieser schwierigen Zeit wieder die Energie dafür aufzubringen, aber sich auch schönen Dingen zuzuwenden wie Malen, Lesen, Reisen oder das Genießen von klassischer Musik. Und irgendwann fände ich es schön, anderen betroffenen Eltern helfen zu können.
Bildnachweis: Privatbesitz Familie Heinemeier
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