Ein Auffahrunfall, die unerwartete Diagnose einer schweren Krankheit: Plötzlich ist man selbst oder sind gar Angehörige damit konfrontiert, über medizinische Eingriffe zu entscheiden. Eine Patientenverfügung kann in Situationen, in denen die oder der Betroffene nicht mehr urteilsfähig ist, eine große Hilfe sein. Trotzdem fällt es vielen schwer, eine solche auszufüllen. So ging es auch mir.
Am 25. Mai war es so weit; wegen Corona geschützt durch eine riesige Plexiglaswand saß ich Monika Obrist von »palliativ zh + sh« für eine Advance-Care-Planning-Beratung gegenüber. Ziel war es, eine Patientenverfügung «plus» zu erstellen. Obwohl ich wusste, was auf mich zukam, war ich etwas nervös: Wie persönlich wird das Gespräch? Was lösen die Fragen bei mir aus? Muss ich zu allem eine Meinung haben?
Unmittelbar vor dem Gespräch wurde mir nochmals klar vor Augen geführt, wie plötzlich eine Patientenverfügung von Nutzen sein kann: Ich war mit dem Fahrrad auf dem Weg zur Beratung. Etwa hundert Meter vor mir sah ich eine stehende Autokolonne. Ich fuhr auf der Stampfenbachstrasse Richtung Zürcher Hauptbahnhof, nahm zwei weiße Lieferwagen wahr, dazwischen ein roter PW. Langsam rollt die Kolonne wieder an, da hörte ich ein knarrendes Geräusch, entweder verschob sich in dem Lieferwagen nun gerade ein größerer Gegenstand, oder – es war ein Auffahrunfall. Da stieg der Fahrer aus dem Lieferwagen und zwang mich, mit dem Fahrrad auszuweichen. Ich blickte nach rechts, ein etwa dreißigjähriger Mann schaut mit abwesendem Blick aus dem Fenster seines roten Wagens. Erst wenige Sekunden später realisierte ich, dass der Gegenstand vor seinem Kopf ein aufgeblasener Airbag gewesen sein musste.
Zögern trotz überzeugenden Gründen
Wenige Wochen vor der Beratung habe ich als Lektor das Buch »Wie ich behandelt werden will – Advance Care Planning« betreut, das Tanja Krones und Monika Obrist herausgegeben haben. Mehrere ExpertInnen schreiben darin aus verschiedenen Perspektiven über Advance Care Planning (ACP), auf Deutsch etwa »vorausschauende Behandlungsplanung«, deren Kern die sogenannte Patientenverfügung «plus» ist. Ausführlicher als bei frei zugänglichen Patientenverfügungen werden mithilfe einer Expertin die eigenen Einstellungen zum Leben, zu schweren Krankheiten und dem Sterben schriftlich festgehalten. Dies erleichtert erwiesenermaßen die Entscheidungen in Notsituationen für das Behandlungsteam, aber auch für Angehörige.
Die Texte des Buches haben mich sofort von ACP und dem Verfassen einer Patientenverfügung überzeugt. Doch ich zögerte trotzdem. Warum? Wenn ich ehrlich bin, war der Grund ein einfacher: Ich wollte mir – gesund, und noch keine fünfzig – keine Gedanken über eine gesundheitliche Notsituation machen, die erst noch hypothetisch ist. Ich wollte mir nicht vorstellen, wie medizinische Fachkräfte mich behandeln sollen, wenn ich auf dem Sterbebett liege. Erst als das Verlagsteam vorschlug, ich könnte an dieser Stelle über eine ACP-Beratung schreiben, meldete ich mich schließlich an.
Fünf Grundfragen
Monika Obrist führte mich souverän und mit großem Einfühlungsvermögen durch das Gespräch. Dazu gehört eine »Standortbestimmung zur Therapiezielfindung«, bei der fünf Grundfragen im Mittelpunkt stehen. Ergänzende Fragen helfen, diese konkreter vor Augen zu führen und ihnen auf den Grund zu gehen.
Wie gerne leben Sie?
Eine überraschende erste Frage, wo man doch denkt, es gehe im Gespräch um Notfälle und das Sterben. Doch bei der Zusatzfrage »Welche Bedeutung hat es für Sie, (noch lange) weiterzuleben?« wird sofort klarer, weshalb diese Frage grundlegend für die ganze Patientenverfügung ist: Wer gern lebt und am Leben hängt, der oder die wird auch bereit sein, mehr Mühen, psychische Tiefschläge und Schmerzen in einer Notsituation auf sich zu nehmen. Im Gespräch mit Monika Obrist wurde mir bewusst, dass ich davon ausgehe, dass ich noch lange leben werde, und es für mich schwierig ist, mir etwas anderes vorzustellen. Wie ich darüber nach einem schweren Unfall denken werde oder wenn ich eines Tages eine schwere Krankheit haben sollte, kann ich nicht beurteilen. Dann wird sich mir die Sinnfrage vielleicht anders stellen und es wird notwendig sein, die Patientenverfügung auf die aktuelle Situation anzupassen.
Was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie ans Sterben denken?
Auch hier hilft mir die Anschlussfrage weiter: »Wenn ich Ihnen sagen könnte, dass Sie heute Nacht friedlich einschlafen und morgen nicht mehr aufwachen werden – was würde das jetzt in Ihnen auslösen?« Ich wäre ungläubig, dann traurig. Der Gedanke daran löste Herzklopfen aus. Ich fragte mich: Wem würde ich davon erzählen, und von wem mich verabschieden? Was wären die Reaktionen und wie würde ich mit diesen umgehen? Wäre es nicht einfacher, niemandem was zu sagen oder mit wenigen nahen Menschen und in Ruhe auf den Tod zu warten? Ich würde jedenfalls keine spontane Abschiedsparty machen.
Darf eine medizinische Behandlung dazu beitragen, Ihr Leben in einer Krise zu verlängern?
Nach der Beantwortung der ersten beiden Fragen war mir definitiv klar, dass für mich grundsätzlich nichts dagegenspricht und ich auch Belastungen und Risiken von Nebenwirkungen in Kauf nehmen würde – auch wenn oder gerade weil (?) mein Krankendossier und damit meine Erfahrungen diesbezüglich sehr klein sind.
Gibt es Situationen, in denen Sie nicht mehr lebensverlängernd behandelt werden möchten?
Was ich mir schwierig vorstelle: Über länger Zeit Übelkeit aushalten zu müssen. Demenz? Gemäß Irene Bopp-Kistler, der Leitenden Ärztin an der Memory-Klinik am Zürcher Stadtspital Waid, ist es durchaus möglich, glückliche Zeiten trotz der Krankheit zu erleben. Keinen Sinn sehe ich darin, die Apparate laufen zu lassen, wenn meine geistigen Fähigkeiten nicht mehr vorhanden sind, und ich nur noch vor mich hinvegetiere.
Welche religiösen, spirituellen oder persönlichen Überzeugungen leiten Sie im Leben?
Die religiöse Zugehörigkeit ist durchaus auch in säkularen Gesellschaften ausschlaggebend für die Einstellung zum Umgang mit Therapien und dem Sterben. So erfahre ich von Monika Obrist zum Beispiel, dass noch nie eine Jüdin oder ein Jude in ihrer Beratung war: »Der Erhalt des Lebens ist der höchste Wert des Judentums [...] Das Ableben darf nicht beschleunigt werden, daher muss alles vermieden werden, das zu einem schnelleren Tod führen könnte.« (Zentralrat der Juden in Deutschland) Ich halte in meiner Standortbestimmung fest, dass mir Werte wie Respekt, soziales Handeln und gegenseitige Hilfe wichtig sind: Ich möchte nicht als »Fall« behandelt werden und solange ich bei Sinnen bin, mit dem Behandlungsteam »auf Augenhöhe« sprechen, will über Diagnosen und Prognosen informiert sein.
Nach etwas mehr als einer Stunde waren die Formulare mit meinen Wünschen bezüglich Notfallsituation, länger andauernder Urteilsunfähigkeit mit unklarer Dauer und bei bleibender Urteilsunfähigkeit ausgefüllt. Die Sicht auf Notfallsituationen und das Sterben war dank Monika Obrist inzwischen fast so klar wie die Plexiglasscheibe zwischen uns. Und mein Airbag liegt sozusagen in einem Mäppchen bereit und muss im Notfall nur noch geöffnet werden.
Bildnachweis: © Illustration von Lilian Caprez
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