Rankings treffen den Zeitgeist. Benchmarking, der Vergleich mit der Konkurrenz, ist in einem globalisierten Umfeld gleichzeitig wichtiger und schwieriger geworden. Aus der Patsche helfen einfache Orientierungshilfen, und was gibt es Schlankeres und Dramatischeres als eine simple Zahl. Etwas ist die Nummer 1 oder 218 in der Welt, basta. Wie gemessen wurde und was der Rang uns tatsächlich sagt, ist zweitrangig. Auch die Künste vermögen sich dem fragwürdigen Ranglisten-Hype nicht zu entziehen.
Was 2003 als lokales Feuerchen begann, wurde in wenigen Jahren zum globalen Flächenbrand. Eine Standortbestimmung der chinesischen Wissenschaft hatte die Shanghaier Jiao-Tong-Universität im Sinn, als sie einheimische Universitäten mit ein paar hundert ausländischen verglich. Das Projekt revolutionierte die internationale Hochschulszene. Innert wenigen Jahren erhielt Jiao Tong Konkurrenz von Dutzenden anderer Rankingunternehmen; was diese ausspuckten, ließ die Gerankten Sturm laufen und ihre Zukunftsstrategien überdenken. Es steht viel auf dem Spiel, von der Zahl zahlungskräftiger Student:innen über die Attraktivität für Spitzenforscher:innen und Industriekooperationen bis zum politischen Goodwill bei der nächsten Budgetdebatte. Dass Rankings nicht können, was sie vorgeben, und systematische Verzerrungen aufweisen, wird bei Terrainverlusten in der jährlich aktualisierten Rangliste jeweils beklagt und bei Ranggewinnen diskret übersehen.*
Warum dieser einleitende Blick auf Hochschulranglisten bei Überlegungen zum Verhältnis zwischen Ranking und Kunst? Weil sie die am längsten und besten analysierten sind und es wenig Gründe zur Annahme gibt, andernorts sei es besser bestellt. Ganz im Gegenteil. Insbesondere in zentralen Bereichen der Kunst ist die Datenqualität im Allgemeinen tief und die Klassierungsmethodik wenig ausgefeilt; über die Ränge urteilt meist eine Expertengruppe oder Einzelperson. Weil bildende Kunst, Musik und Literatur zudem ein breites Publikum ansprechen und großes Medieninteresse auslösen, sind Rankings hier oft nichts Weiteres als verkappte Werbemittel. Sie vor diesem Hintergrund einfach ignorieren? Der Schweizer Schriftsteller Alex Capus hat im Vorjahr seinen Verlag gebeten, ein für den Schweizer Buchpreis eingereichtes Buch wieder zurückzuziehen. Ein Buchpreis sei kein olympisches Rennen und er selbst kein tanzendes Zirkuspferd, wie er sich in der »NZZ am Sonntag« vernehmen ließ. Seine Aktion ist eine grundsätzliche Absage an Klassierung und Siegerehrung in der Kunst; sie ließe sich auch mit einem perfekten Ranking nicht aus der Welt schaffen. Aber wie steht es mit dem, was blüht: einer Flut ganz und gar unperfekter Rankings? Wegschauen wäre eine Option, diese intelligent nutzen die bessere – misstrauisch, selektiv und mit Bedacht. Auf dem Weg dazu drei Warnlampen und ein (tröstliches) Glühbirnchen:
I. Rankings, wenn sie nicht auf Chronometer und Maßstab basieren, gaukeln eine Genauigkeit vor, die sie nicht erreichen. Selbst bei den seriösesten und sorgfältigsten können Differenzen von weniger als zehn Rängen in einem Klassement der besten 100 getrost ignoriert werden. Kein Grund zum Jubeln also für die Anhänger von Paavo Järvi, wenn dieser in einem Klassement der weltbesten Dirigenten drei Ränge vor Andris Nelsons liegt. Aufgepasst auch bei Rangverschiebungen über die Zeit; diese sind oft lediglich das Resultat von Retuschen an der Ranking-Methodik oder Jury-Zusammensetzung. Und schon liegt Nelsons vorne ...
II. In den letzten Jahren sind Kunst-Rankings wie Pilze aus dem Boden geschossen, allen voran von Museen, unter diesen die »20 Best Museums and Galleries of the World«. Schon die Beliebigkeit der Rangliste, die Uffizien in Florenz vor dem Louvre, dem MoMa und dem National Museum of Modern and Contemporary Art in Seoul macht stutzig. Die weiteren 16 Ausstellungsorte sind in 16 verschiedenen, schön um die Welt verteilten Städten untergebracht. Man riecht den Braten, bevor er aus dem Ofen kommt. Und in der Tat, für das Ranking verantwortlich ist das englische »Time Out«, ein weltweit im Tourismusbereich tätiges Unternehmen.
III. Das wohl einflussreichste Kunst-Ranking der Welt ist das jährliche »Power 100« des britischen Magazins »ArtReview«, eine Rangliste der wichtigsten Persönlichkeiten und Bewegungen in der Kunst. Dafür zuständig ist eine 30-köpfige internationale Jury. Sie ist anonym und auch bezüglich der verwendeten Ranking-Kriterien und ihrer Gewichtung schweigt sich das Magazin aus. Transparenz wird beim Großteil von Kunst-Rankings kleingeschrieben.
IV. Falschen Verheißungen und undurchsichtigen Verfahren zum Trotz, kann sich der Blick auf Rankings lohnen, wenn auch nur der gezielte. Beim oben monierten Klassement der »ArtReview« ist es jener auf die jeweiligen Spitzenplätze. Die Nummern Eins verraten viel über neue, auf gesellschaftlichen und politischen Wandel reagierende und diesen auch initiierende Tendenzen in der Kunst: 2020 die Antirassismusbewegung Black Lives Matter, 2021 NFT, der Handel mit Kunstobjekten als fälschungssichere digitale Vermögenswerte, 2022 Ruangrupa, das an der letzten »documenta« in die Schlagzeilen gelangte indonesische Kunstkollektiv. Aufklärend und nützlich dabei auch die jeweils von »ArtReview« gelieferten Begründungen.**
In einer kürzlich publizierten Schweizer Kulturgeschichte porträtiere ich 65 Künstler:innen und Intellektuelle, die diese in den letzten 100 Jahren (mit)geschrieben haben. Kaum ein Drittel war bei meiner Auswahl mehr oder weniger gesetzt; eine Literatenauswahl ohne Robert Walser, Charles Ferdinand Ramuz, Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt hätte man mir nicht verziehen. Bei den anderen zwei Dritteln gab es Alternativen zuhauf. Ich habe sie akribisch, mithilfe eines Kriterienkatalogs reduziert. Dass meine schlussendliche Wahl dennoch subjektiv gefärbt ist, meine persönliche Geschichte, meine Interessen und mein Werte-Rucksack eingeflossen sind, liegt in der Natur der Sache. Ich schrieb nicht die, sondern eine Schweizer Kulturgeschichte.
Die 65 Künstler:innen und Intellektuellen, die Hans Peter Hertig in seinem Buch »Eine andere Schweizer Kulturgeschichte. 65 prägende Persönlichkeiten im Dialog« porträtiert, sind:
1918 | Ernest Ansermet, Albert Einstein, Hermann Hesse, Arthur Honegger, Paul Klee, Carl Albert Loosli, Charles Ferdinand Ramuz, Gonzague de Reynold, Carl Spitteler, Sophie Taeuber, Félix Vallotton, Robert Walser
1946 | Othmar H. Ammann, Blaise Cendrars, Lisa della Casa, Max Frisch, Alberto Giacometti, Le Corbusier, Ella Maillart, Meret Oppenheim, Franz Schnyder, Michel Simon, Jean Rudolf von Salis, Jakob Tuggener
1969 | S. Corinna Bille, René Burri, Sylvia Caduff, Jacques Chessex, Friedrich Dürrenmatt, Franz Gertsch, Jean-Luc Godard, Niklaus Meienberg, Paul Nizon, Irène Schweizer, Jean Starobinski, Jean Tinguely
1996 | Ernst Beyeler, Luc Bondy, Anne Cuneo, Dimitri, Aurelio Galfetti, Heinz Holliger, Anna Huber, Marthe Keller, Giovanni Orelli, Pipilotti Rist, Erika Stucky, Urs Widmer
2021 | Endo Anaconda, Renato Berta, Christian Berzins, Vanessa Billy, Jean-Stéphane Bron, Marie Caffari, Claudia Comte, Caroline Coutau, Sylvie Courvoisier, Bice Curiger, Daniel de Roulet, Jacques Dubochet, Patricia Kopatchinskaja, Simone Lappert, Klaus Merz, Melinda Nadj Abonji, Omar Porras
* Mehr dazu in: Hans Peter Hertig, Universities, Rankings and the Dynamics of Global Higher Education, London 2016.
** Im Besonderen jene von 2021: https://artreview.com/introducing-the-power-100-the-most-influential-people-in-the-artworld-in-2021.
Bildlegende: Hans Peter Hertig an der Vernissage seines Buches »Eine andere Schweizer Kulturgeschichte« in der Münstergass-Buchhandlung in Bern, Mai 2023. © Beatrix Boillat
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