Selten hat man als Museumsbesucher die Schöpferin eines Exponates gleich zur Seite und erhält Informationen aus erster Hand. Über den von ihr kreierten Abendmantel, ihr Schaffen und den Wandel der Mode spricht Christa de Carouge beim Besuch im Landesmuseum Zürich.
Zürich – Nationalmuseum an einem Dienstagnachmittag im Frühling 2013: Eine Frau mit weiten, locker fallenden Kleidern ganz in Schwarz betritt die Eingangshalle des Museums, ihre grauen Haare sind an den Seiten kurz geschnitten, die oberen, längeren werden als Knoten unter einem schwarzen »Miniaturfes« zusammengehalten.
Ihre grünbraunen Augen hinter der markanten schwarzen Brille strahlen Herzlichkeit aus und fokussieren den großen Pfeil, der den Besucher auf die »Galerie Sammlung«, einen hohen Saal mit imposantem Deckengewölbe, hinweist. Begleitet von Glockengeläut bewegt sich die Designerin unter den Blicken sakraler Holzfiguren, vorbei an aufwendig bestickten Messgewändern durch den Raum hin zu einer einladend offenstehenden, opulenten Tür und erreicht eine etwas kleinere Kammer, die sich ausschließlich der Geschichte der Bekleidung widmet.
Neben den Flachtextilien, die an den Wänden angebracht sind, nimmt ein langer Schaukasten die Hälfte des Raumes ein und bildet eine Art musealen Laufsteg für die Exponate, die nach ihrem Entstehungsjahr aufgereiht sind. Wie von unsichtbaren Modellen getragen, sind sowohl Kostüme, Trachten, aber auch Alltagskleider vergangener und gegenwärtiger Zeit ausgestellt. Beim ältesten Objekt handelt es sich um Wams und Pumphosen aus brauner Wolle aus dem Jahre 1640.
Links neben dem Eingang steht das zweitletzte und somit eines der jüngsten Objekte der Sammlung: ein kupferfarbener Damenmantel von Christa de Carouge. Die Schöpferin betrachtet ihr Werk lange und blickt stolz durch die massive Glasscheibe. Sichtlich berührt gesteht sie: »Ich fühle mich geehrt, ein Teil der Dauerausstellung zu sein, vor allem mit diesem prägenden Stück aus besonderem Gewebe.« Unsterblichkeit würde ihre Mode dadurch erlangen, ist die Designerin sicher, die sich in ihrem Schaffen bestätigt fühlt.
Die Beschriftung des Kleidungsstücks stammt vom Museum. Für die Modemacherin ist die gewählte Bezeichnung »Abendmantel« nebensächlich, da sie den Zeitpunkt des Tragens der Besitzerin überlässt. Die Aussteller haben sich 1994 bewusst für dieses Stück entschieden. Denn im selben Jahr entstanden, steht der wallende Mantel aus formbarem Kupferdraht-Seidengewebe ganz im Zeichen der Entwicklung der Textilindustrie: Ende des 20. Jahrhunderts beginnt diese Branche spannende, neue Materialkompositionen zu entwickeln. De Carouges Werk repräsentiert somit ein Segment der Geschichte der Schweizer Textilherstellung, aber auch die außergewöhnliche Ästhetik hat laut Kuratorin Christina Sonderegger zur Wahl des Kleidungsstückes beigetragen, schließlich müssen die präsentierten Objekte gerne angesehen werden.
Die rostrote Farbe des edlen Mantels wirkt äußerst dezent und lässt ihn neben den knalligen Farben anderer Ausstellungsstücke beinahe verschwinden, die luftige Form aber zieht den Betrachter in ihren Bann.
Die in Zürich lebende Modeschöpferin erzählt vor der gläsernen Vitrine, wie sie zu diesem Stück inspiriert wurde, als der Textilhersteller Jakob Schlaepfer in St. Gallen ihr erstmals Metallstoffe präsentierte. Der Art Director bei Schlaepfer, Martin Leuthold, kreierte aus Gold, Bronze, Silber und Kupfer Textilmetallfäden, die nicht rosten, den Stoff formbar machen und der Seide, in die sie eingewoben werden, einen unaufdringlichen Glanz verleihen. »Dem ersten Ertasten des neuen Stoffes folgte gleich die Formidee eines ›verwandelbaren Kleides‹«, sagt de Carouge mit solch einer Freude in der Stimme, dass man merkt, die Arbeit ist ihre Leidenschaft. Der Schnitt des Mantels ist schlicht und einfach gehalten, damit man beim Drapieren am eigenen Körper viele unterschiedliche Möglichkeiten hat. Es scheint, als würde ein Wind-stoß den Mantel von unten kurz anheben und gleich wieder fallen lassen, der Kupferdraht im Seidengewebe aber stoppt die Bewegung mitten im Schwung.
»Reizend an neuartigen Textilien sind auch immer die unbekannten Herausforderungen, denen man sich stellen muss, um aus dem Stoff das Bestmögliche zu schaffen«, erklärt Christa de Carouge mit einem Funkeln in den Augen. Beim Arbeiten am Abendmantel entstanden zum Beispiel Nähte mit Zacken, die mit Wattierungen verpackt werden mussten, damit das Mate-rial verarbeitbar und später überhaupt tragbar wurde. Neben der Zusammenarbeit mit den Schneiderinnen und Schnittmacherinnen ist ein enger Kontakt mit dem Textilhersteller für die ambitionierte Modemacherin unerlässlich.
Die Arbeit mit diesem metallenen Stoff sei einmalig; für den Alltag verwendet die Designerin klassischere Materialien, die alle die gleichen Kriterien erfüllen: Sie müssen pflegeleicht, langlebig und bequem sein.
Dies setzt eine Qualität des Stoffes voraus, die de Carouge dank langjähriger Erfahrung bereits beim ersten Anfassen erkennt.
Die Designerin führt in den lichtarmen Räumlichkeiten des Landesmuseums aus, dass Vorstellung von Stoff und Form ein Zusammenspiel und meist kaum nachvollziehbar ist, was zuerst da war. »Fünfzig Jahre als Modemacherin bringen Übung«, sagt Christa de Carouge lächelnd, »das Endprodukt entspricht fast immer meiner ursprünglichen Intention.«
Den weiteren ausgestellten Gewändern der »Galerie Sammlung« kann die Fachkundige trotz deren kulturgeschichtlichen Aussagekraft wenig abgewinnen, sie sind ihr zu bunt und die alten Wollstoffe zu massiv; ein natürliches Bewegen des Trägers werde dadurch verhindert. Nur vor den klassischen, rot-weißen Trachten aus dem Appenzell bleibt die Modemacherin einen Moment stehen und inspiziert jede Kleinigkeit. »Traditionskleider mit all ihren Details sind immer wunderschön und eng mit der Gesellschaftskultur verbunden«, kommentiert Christa de Carouge mit ihren zwei kolossalen, schwarzen Ringen spielend. Trachten beeinflussen ihr Schaffen aber kaum. Wenn sie sich von anderer Garderobe zu Eigenkreationen animieren lässt, dann seien es eher solche aus dem religiösen Umfeld. Fasziniert von Stoffen japanischer Mönchsgewänder, interessierte sie sich für die Gewänder, die in den Schweizern Klöstern getragen werden, und es gelang ihr – nach langer Suche – einen Klosterstoffhersteller in Deutschland ausfindig zu machen. Einige Jahre hat sie mit dem robusten, grobstrukturierten und wollenen Stoff gearbeitet. Als Vergleich dazu nennt sie den etwas kratzigen Caban-Stoff, den ursprünglich bretonische Fischer trugen, um gegen Wind und Wetter geschützt zu sein. Die Kunden hätten den »Klosterstoff« und die daraus entworfenen Mäntel, Jacken und Röcke geschätzt und tragen diese noch heute, da das Material lebenslange Qualität aufweist.
Inzwischen sind einige Besucher vorbeigeschlichen und haben versucht, den Worten de Carouges unbemerkt zu lauschen. Ihre Blicke wandern neugierig zwischen den Exponaten und der Frau in Schwarz hin und her.
»Architektur am Körper«
Christa de Carouge verkörpert ihre vielfältige und doch so linientreue Mode wohl am besten selber. Von Kopf bis Fuß ist sie in eigene Werke gekleidet, trägt sie selbstbewusst und mit einer Selbstverständlichkeit, als wäre es ihre zweite Haut. Die Gestalterin hat ihre eigene Philosophie verinnerlicht und verkörpert diese auch gegen außen.
»Ich baue Hülle und Haus für den Körper, der sich dort einquartiert und seine ›Wohnung‹ immer auf sich trägt«, verbalisiert sie ihr Modeverständnis. Auf Reisen durch Asien erkannte sie, wie wichtig Kleider in Regionen mit besonderen Wetterbedingungen für die Träger sein können. Sie müssen Schutz und Wärme bieten, wie die eigenen vier Wände.
»Jeder will heute schnell unterwegs sein und flexibel bleiben, da gibt es keinen Platz für massige Bekleidung«, so de Carouge. Noch bis ins 20. Jahrhundert waren die Stoffe viel schwerer, die Zeiten und Bedürfnisse haben sich aber durch die Globalisierung geändert. Man muss wenig bei sich haben, dies bündeln, um jederzeit weiterziehen zu können.
Die Parallelen zwischen Bekleidung und Behausung mögen überraschen, liegen für Christa de Carouge aber auf der Hand. Ihre Arbeit selbst bezeichnet sie als Architektur, die »Mode« entstehe nebenbei. Dem Betrachter sollen sie dennoch gefallen, ähnlich einer gutgestalteten Fassade. Die Entwürfe müssen wie die Caban-Mäntel der bretonischen Fischer Wind und Wetter standhalten.
»Mode als Gesellschaftskritik«
Schlicht konstruiert wie ein Gebäude aus dem Bauhausprogramm, bietet nicht einmal die Farbe der Kleider Raum für Phantasie, dominiert doch Schwarz bei de-Carouge - Kollektionen. Schnitt und Farbe lassen Schweizer Bescheidenheit vermuten, stehen aber für deren unverwechselbaren Charakter. Rückbesinnung auf das Essentielle ist es, was de Carouge verlangt, in der Mode, aber auch in der Gesellschaft.
Durch die Ausstellungsobjekte spazierend, wird Christa de Carouge beinahe zur Unter-rich-tenden, sobald sie nach der -heutigen Mode gefragt wird. Aufgebracht beginnt sie ihre Kritik: »Ich bin gar nicht zufrieden mit dem heutigen Modebild, zu viel Mist wird produziert und konsumiert.« Es sei beispielsweise sinnlos, Stoffe so zu bearbeiten, dass sie wie gebraucht aussehen, auch die wilden Farbkombinationen seien unmöglich.
Sie ist erstaunt, wie viele Leute ständig das Neuste kaufen, um sich dessen kurz danach wieder zu entledigen. Die Wegwerfgesellschaft solle endlich vernünftig werden, man müsse zurück zur Einfachheit, zurück zur Bescheidenheit gelangen. »Nur wenig braucht man, dies muss man jedoch lernen zu lieben und sorgfältig behandeln«, doziert de Carouge. Diese Einstellung aber sei der heutigen Zeit verlorengegangen, den Kindern werde nicht vermittelt, einzelnen Sachen Aufmerksamkeit zu schenken und sich daran zu erfreuen.
Wenn sich die 77-Jährige so ereifert, vergisst man, dass sie von Kleidern spricht, es ist vielmehr eine holistische Kritik an der Postmoderne. Es wird sogar ein wenig Angst vor der ungewissen Zukunft spürbar: »Wir leben in einer gefährlichen Zeit.« Die neuen technischen Errungenschaften hätten zu einem Bruch in der Gesellschaftsentwicklung geführt, neben vielen Arbeitsplätzen ginge auch die Individualität dabei verloren.
Immer wieder versuche der Mensch zu imitieren, um zu einer Gruppe zu gehören, da er den Halt verloren hätte, sich nicht mehr selbst definieren könne. Christa de Carouge und ihre Mode stehen für Individualität, sie bietet Bekleidungen, nie aber Verkleidungen. »Verkleidung gehört auf die Theaterbühne oder in die Fastnachtszeit, nicht in den Alltag«, ist sie überzeugt. Für die meiste Haute Couture, die die Trends setzt, hat Christa de Carouge nur ein Lächeln übrig. Ihre Arbeiten verfolgen keine Trends und stehen immer zum Zeitpunkt des Tragens für die Gegenwart. Somit sind Kleider von ihr nie eine Mode, sind »unmodisch« und überzeugen durch den zeitlosen Charakter der Schnitte. Zeitlosigkeit, die im Museum ausgestellt, immer ein gegenwärtiges und auch unsterbliches Moment repräsentiert: Werke im Museum überdauern.
Nach beinahe zwei Stunden mit dieser außergewöhnlichen Persönlichkeit irritiert die bunte, lärmende Welt außerhalb der Mauern des Museum. Das Auge ist überfordert von den unzähligen Leuchtreklamen der Modegeschäfte; dass man eines dieser »modischen« Kleidungsstücke in den Schaufenstern beim nächsten Museumsbesuch hinter Glas-vitrinen wieder trifft, ist eher unwahrscheinlich. Damit man Teil der Kulturgegenstände im Landesmuseum wird, braucht es radikalere und kompromisslosere Entwürfe.
Das Schweizerische Nationalmuseum
Unter dem Dach des Schweizerischen Nationalmuseums sind die drei Museen – Landesmuseum Zürich, Château de Prangins und das Forum Schweizer Geschichte Schwyz – sowie das Sammlungszentrum vereint. Die Museen präsentieren in ihren Ausstellungen Schweizer Geschichte von den Anfängen bis heute und erschließen die schweizerischen Identitäten und die Vielfalt der Geschichte und Kultur des Landes. Zusätzliche Eindrücke bieten die vielfältigen Wechselausstellungen zu aktuellen Themen.
»Galerie Sammlungen« gewährt erstmals einen repräsentativen Überblick über die eigenen Sammlungsbestände und beinhaltet Möbel, Gemälde, Keramik, aber auch Textilien. Mit über 820000 Objekten verfügt das Schweizerische Nationalmuseum über die größte Sammlung zur Schweizer Kulturgeschichte und Kunsthandwerk.
Bildnachweis: links: Anna Schmidhalter mit Christa de Carouge. © Felix Ghezzi; rechts: Foto Schweizerisches Nationalmuseum DIG-4831
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