Die Schriftstellerin Ruth Schweikert erhält Anfang 2016 die Diagnose eines hoch aggressiven Brustkrebses. In ihrem Buch »Tage wie Hunde« erzählt sie autobiografisch und zugleich literarisch von dieser prägenden Zeit. Ein Gespräch über das Reden und Schreiben über eine lebensbedrohliche Krankheit.
Sie schreiben im Buch, beim Erhalten der Diagnose hätten Sie sofort gewusst, dass Sie darüber schreiben würden. Weshalb war das so klar?
RS: Es war wie ein Reflex. Eine Diagnose ist ja auch eine Zuschreibung, eine Beschreibung. Oft scheint sie quasi von einem Moment auf den anderen den ganzen Menschen einzunehmen. Für Ärzt:innen bist du der Fall X mit der Krankheit Y. Und man selbst merkt auch, dass dies sehr viel Raum einnimmt. Es war mir wohl instinktiv klar, dass für mich das Schreiben auch eine Notwendigkeit ist, um den Gedankenraum und den emotionalen Raum nicht vollständig durch solche Zuschreibungen besetzen zu lassen.
Das Buch ist in sieben Wochentage strukturiert, von Dienstag bis Montag. Sie beschreiben, dokumentieren und beobachten die Zeit der Krankheit sehr fragmentarisch. Wie ist es zur Form gekommen?
RS: Die Form war mir am Anfang überhaupt nicht klar. Was hingegen klar war: Es soll autobiografisch sein, aber trotzdem ein literarisches Buch werden. Ich begegnete dieser Krankheit als literarische Autorin. Dann war ich in Paris und las eine Rezension über die Ausstellung »Days Like Dogs« von Camille Henrot im Palais de Tokyo. Die Künstlerin gliederte die Ausstellung in 14 Räume mit Namen von Wochentagen und Zeiten: Montag/Montagnacht. Und das schien mir ein taugliches Ordnungsprinzip, weil mich gerade die Überlagerungen beschäftigten, die während einer solchen Krankheitserfahrung passieren. Es läuft ja nicht alles chronologisch ab, obwohl die Zeit chronologisch abläuft: Man ist gedanklich und emotional immer wieder auch zurückgeworfen auf bestimmte frühere Momente. Das Nebeneinander und Gegenüber und Übereinanderschichten von Beobachtungen, Gedankenmomenten, die zeitlich voneinander entfernt sind und trotzdem sich überlagern, hat mich interessiert. Wir brauchen ja offensichtlich alle Ordnungen, suchen nach Koordinaten, wo vielleicht auch das Unerwartete, das Schwierige und die Zufälle einen Platz finden. So war es tatsächlich so, dass Diagnose wie Operation an einem Dienstag erfolgten, also, überspitzt formuliert, Todesurteil und Rettung sind an »Dienstag« gekoppelt.
Corina Caduff schreibt in »Ein letztes Buch«, dass das Schreiben für viele Autor:innen, die über ihr Sterben schreiben, sie zumindest momentweise kräftigt. Haben Sie ähnliche Erfahrungen gemacht?
RS: Ja, aber nicht nur. Der Schriftsteller Hermann Burger schrieb, die Krankheit oder der Schmerz, den man sich vom Leib schreiben will, schreibt sich zugleich in die Haut. Ich brauchte zweieinhalb Jahre, bis dieses Buch fertig geschrieben war. Und ich weiß noch, mein Mann sagte irgendwann: »Jetzt hör mal auf. Schreib das Buch endlich zu Ende!« Ich erlebte, was Burger beschrieb, aber auch das Kräftigende des Schreibens. Ich versuchte, mehrere sprachliche Zustände in dieses Buch zu bringen: Vom Stammeln und Stottern, weil die Sprache einem wegbricht, sodass ich nicht mal mehr Wörter richtig schreiben konnte, bis zu sehr elaborierten, ausgeklügelten Sätzen, über denen ich tagelang saß. Wenn Formulierungen gelingen, wenn ein Satz oder Absatz durch die Gestaltung mehr ist als die Summe des Inhalts, den er erzählt, dann ist das für mich etwas Beglückendes und Kräftigendes
Wenn man aus einer solchen Krankheitserfahrung nicht etwas für sich selbst herausziehen kann, dann hat man auch eine Chance verpasst. Ich tat dies unter anderem mit dem Schreiben. Das heißt nicht, dass die Krankheit einen Sinn hat. Aber man kann versuchen, die Krankheitserfahrung zu lesen – sei es nur als Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit und damit allgemein der Sterblichkeit oder indem man kranken Mitmenschen fortan anders, mit mehr Verständnis begegnet.
Bei Gesunden spürt man eine große Unsicherheit, wie man Kranken begegnen soll. Sie streuen im Buch Nachrichten von Bekannten ein, die Sie während der Zeit erhalten haben, meist unkommentiert, und zwingen die Leser:innen dazu, sich zu fragen: Wie hat Ruth Schweikert wohl darauf reagiert? Wie würde ich darauf reagieren?
RS: Es gibt kein Richtig oder Falsch. Was sich in diesen Nachrichten zeigt, ist oft eine Hilflosigkeit. Ich würde im Umgang mit Kranken Mut machen, gerade die eigene Unsicherheit zu formulieren. Zu sagen: Ich fühle mich überfordert, ich weiß gar nicht, wie ich mit dir sprechen kann. Ich weiß nicht, wie dir zumute ist. Oft ist auch diese ganze »Kommuniziererei« für einen Kranken anstrengend: Viele Menschen nehmen Anteil und wollen immer wissen, wie es dir geht. Aber sie wollen natürlich am liebsten hören: Ja, es geht gut. Jaja, ich ertrage das schon. Jaja, das kommt wieder gut. Und dann gibt es natürlich die Momente, in denen man nichts sagen möchte, weil die Situation mit der Krankheit auch etwas Intimes ist. Die Situation ist also für beide Seiten anspruchsvoll.
Allgemein scheint es, wird in der Öffentlichkeit immer mehr über Krankheiten, das Sterben und den Tod gesprochen. Würden Sie dem zustimmen?
RS: Ich glaube, was Krankheit generell angeht, auch sogenannt psychische, hat es in den letzten Jahrzehnten einen fundamentalen Wandel gegeben. Ich gehöre zu einer Generation, die damit aufwuchs, dass sehr vieles verschwiegen wurde, Familiengeheimnisse durften nicht offen benannt werden. Das hat sich nun verändert bis hin zu einer Kultur der totalen Veräußerung, zum Beispiel in den Sozialen Medien. Manchmal frage ich mich, wo bleibt dabei der Raum, wo ich auch etwas mit mir selbst ausmache? Vielleicht hat die Entwicklung damit zu tun, was der Soziologe Andreas Reckwitz mit »Gesellschaft der Singularitäten« benennt. Wenn es nicht mehr darum geht, möglichst unauffällig in der Masse aufzugehen, können eine Krankheit oder Krankheitserfahrungen tatsächlich zu einer identitätsstiftenden Größe werden. Da stellt sich natürlich die Frage, was das mit unserer Gesellschaft macht, aber auch mit dem einzelnen Individuum, das quasi über einen Unique Selling Point verfügen muss, um in unserer Gesellschaft nicht unbeachtet unterzugehen. Ich verfolge aufmerksam, was da passiert.
Sie schreiben in »Tage wie Hunde«: »Und dann wünsche ich mir, ich könnte mir diese Bereitschaft aneignen, die großzügige Bescheidenheit, diese Gastfreundschaft gegenüber dem Tod, wie sie Walter Matt- hias Diggelmann in ›Schatten, dem Tagebuch einer Krankheit‹, seit 1979 mit uns lebenden Lesenden teilt.« Verstehen Sie Ihr Buch als eine Brücke zwischen den Kranken und Gesunden?
RS: Ja, das ist natürlich etwas, das ein Buch ermöglicht. Ich erfahre dann zum Beispiel, wie Walter Matthias Diggelmann 1979 über sein Sterben nachgedacht und geschrieben hat. Deshalb hat die Menschheit wahrscheinlich die Schrift erfunden. Weil sie etwas tradiert, damit tatsächlich so etwas wie ein Sprechen über Generationen hinweg ermöglicht und die Hinterlassenschaft wieder lebendig werden kann.
(rechts): © Ruth Schweikert
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