Sterben kann medizinisch immer mehr hinausgezögert werden. Soll es zugelassen werden, braucht es dazu oft bewusste Entscheidungen. Selbstbestimmtes Sterben ist zum neuen Paradigma des Sterbens geworden; deshalb ist eine gute Aufklärung unheilbar kranker Patienten durch die Ärzteschaft wichtig. Hilfreich kann auch eine Besinnung auf die lange Tradition der »Ars (bene) moriendi«, der Kunst des guten Sterbens sein.
Krankheiten, die früher tödlich waren, können heute durch lebensverlängernde Maßnahmen so weit stabilisiert werden, dass Patienten weiterleben können. Soll jemand wirklich sterben können, muss in vielen Fällen explizit entschieden werden, das Sterben zuzulassen. Im Kontext eines modernen Gesundheitswesens stirbt man nicht mehr einfach so »von Natur aus«. Der Tod ist nicht mehr das fremd verfügte Schicksal; wir können ein gutes Stück weit über ihn verfügen. Nach jüngsten Untersuchungen sterben in der Schweiz 58,7 % der medizinisch begleitet Sterbenden erst, nachdem medizinische Lebensende-Entscheidungen gefällt wurden, vor allem Entscheidungen über den Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen.
Selbstbestimmung als neues Paradigma des Sterbens
Wer aber entscheidet in solchen Situationen? Die Antwort ist eindeutig: der Patient selbst. Und wenn er nicht mehr urteilsfähig ist, liegt die Entscheidung bei der zu solchen Entscheidungen autorisierten Vertretungsperson. Wer das ist, wird in der sog. Vertretungskaskade des Erwachsenenschutzrechtes in Art. 378 ZGB festgelegt. Vertretungspersonen haben streng im Sinn der Patientin, die sie vertreten, zu entscheiden und sicherzustellen, dass deren mutmaßlicher Wille durchgesetzt wird. So verlangt es das medizin-ethische Prinzip des Respekts vor der Patientenautonomie.
Selbstbestimmtes Sterben ist zum neuen Paradigma des Sterbens geworden. Wir dürfen nicht nur, wir sollen selbst über unser Sterben entscheiden, auch wenn uns jeder Gedanke an einen Suizid fernliegt. Damit ist eine fundamental neue Situation entstanden. Sie bringt uns ein bisher nicht gekanntes Maß an Freiheit zur Selbstbestimmung im Blick auf unser Sterben; sie stellt zugleich eine Zumutung an Sterbende dar, die mitunter als Überforderung empfunden wird.
»Ars moriendi« – sich mit dem Sterben vertraut machen
Damit Selbstbestimmung beim Sterben gelebt werden kann, bedarf es gewisser Voraussetzungen. Die eine ist medizinischer Art: Es braucht eine Ärzteschaft, die Patienten offen über alle bestehenden Behandlungsoptionen und ihre Konsequenzen aufklärt. Dazu gehört auch eine Information darüber, wie man an einer Krankheit – begleitet von Palliative Care – sterben kann, wenn man darauf verzichtet, therapeutisch gegen sie anzukämpfen. Denn es dürfte sich lohnen, Möglichkeiten eines relativ leichten Sterbens gegebenenfalls als Todesursache anzunehmen, statt sie durch lebensverlängernde Maßnahmen zu bekämpfen.
Die andere Voraussetzung ist mehr existenzieller Art: Es bedarf aufseiten der Betroffenen einer Bereitschaft, sich mit dem Gedanken an den eigenen Tod irgendwie anzufreunden. Nicht erst in der finalen Phase des Lebens. Nach einer langen philosophischen und theologischen Tradition gehört es zu einer Lebenskunst, sich mit der eigenen Sterblichkeit vertraut zu machen. Leben lernen heißt sterben lernen, ein Leben lang, so die Überzeugung des Philosophen Seneca. Und Michel de Montaigne sagt im 16. Jahrhundert, philosophieren heiße eigentlich nichts anderes als sterben lernen. Das Mittelalter entwickelte schließlich eine eigene Literaturgattung der »Ars (bene) moriendi«, also der Kunst des guten Sterbens.
Seit einigen Jahren ist ein neues interdisziplinäres Interesse an einer »Ars moriendi nova«, einer neuen Kunst des guten Sterbens festzustellen. Zu einer solchen Kunst beitragen kann – um nur ein paar Beispiele zu nennen – das Einüben einer Lebenshaltung der Achtsamkeit und Gelassenheit; oder das Entwickeln der Fähigkeiten, Zugemutetes auszuhalten, Grenzen zu akzeptieren und konstruktiv mit Unabänderlichem umzugehen. Auch das Loslassen, das abschiedliche Leben kann so eingeübt werden, dass es vorbereitet auf das einstige definitive Loslassen des Lebens. Die bewusste Konfrontation mit dem Tod in der Musik und Literatur oder im persönlichen Begleiten von sterbenden Menschen schließlich kann dazu anregen, sich mit der eigenen Sterblichkeit anzufreunden. Sich auf solche Auseinandersetzungen einzulassen dürfte helfen, die uns zugemutete Selbstbestimmung im Sterben als Chance freier Lebensgestaltung wahrzunehmen.
Bildlegende: links: Moderne Medizin kann den Tod immer mehr hinausschieben. © Wikimedia Commons. rechts: Anfechtung der Hoffart (Hochmut), Ars moriendi, Holzschnitt aus Blockbuch, ca. 1460. © Wikimedia Commons
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