Als Filmkritiker hat man sein Hobby zum Beruf gemacht und kann jeden Tag das tun, wovon andere nur träumen: ins Kino gehen. Endgültig den Neid anderer auf sich zieht man, wenn im Mai das Festival von Cannes näher rückt. »Brauchst du an der Croisette keinen Assistenten«, fragen Kollegen auf der Redaktion jeweils scherzhaft, »jemanden, der dir die Tasche trägt?« Alle würden gern mitkommen an die Côte d’Azur, wo man ein, zwei Filme schaut den Tag über und dann mit Stars wie Penelope Cruz und Brad Pitt bis tief in die Nacht hinein feiert.
Nichts ist falscher als dieses Klischee, das aus Zeiten stammt, als Brigitte Bardot die Titelseiten der Illustrierten zierte. Cannes ist zwar nach wie vor ein frivoler Karneval. Aber nirgends habe ich mehr Stress und weniger Zeit zum Feiern als an der Croisette.
Was macht man als Filmjournalist tatsächlich auf Filmfestspielen? Ich habe in Cannes jeweils drei Missionen zu erfüllen. Erstens: Möglichst viele Filme sehen. Zweitens: Artikel für die »NZZ am Sonntag« und den Blog schreiben. Drittens: Interviews mit Cineasten führen.
Filmeschauen ist das Wichtigste. Cannes gehört zusammen mit Sundance und Venedig zu jener Handvoll Festivals, wo man einen Blick über den Horizont werfen und Werke entdecken kann, die erst Monate später ins Kino kommen. Seit ich Redaktionsleiter von »Frame« bin, hat Cannes für mich nochmals an Bedeutung gewonnen. Unsere Filmzeitschrift erscheint vierteljährlich und berichtet ausschließlich prospektiv. Da ist es entscheidend zu wissen, welche Filme eine große Berichterstattung lohnen und welche nicht.
Hinzu kommt, dass ich über Filme, die ich in Cannes gesehen habe, frei berichten kann. Wenn ich einzelne Titel in Zürich lange vor dem Kinostart sehen möchte, können mir die Verleiher ihre Konditionen diktieren, etwa indem sie ein zeitliches Embargo für Rezensionen aussprechen. Dieses Jahr habe ich in Cannes drei bis fünf Filme am Tag gesehen, wobei ich sie mir hart verdienen musste. Wegen der Angst vor Terroranschlägen haben die Franzosen die Sicherheitsvorkehrungen auf ein nie gesehenes Maß erhöht. Wer ins Kino wollte, musste dieselbe Prozedur über sich ergehen lassen wie ein Passagier am Flughafen: doppelter Bodyscan, Tasche leeren, nicht einmal ein PET-Fläschchen Wasser durfte man hineinnehmen. Das hat dazu geführt, dass ich zuweilen länger Schlange stand, als ich dann im Kino Filme schaute. Von den elf Tagen in Cannes habe ich einen ganzen Tag (also 24 Stunden) mit Anstehen und Warten im Kino verbracht.
Meine zweite Mission in Cannes ist die Berichterstattung. Auf meinem Blog erzähle ich täglich von Filmen und Begegnungen – in direkter Al-fresco-Manier, mehr als eine Stunde Zeit zum Verfassen eines Eintrages steht mir dabei nicht zur Verfügung. Der Blog wird vor allem von Leuten aus der Branche gelesen. Für die »NZZ am Sonntag« suche ich mir jeweils ein übergeordnetes Thema aus, das sich losgelöst von den einzelnen Filmen analysieren lässt – dieses Jahr war das etwa der Einfluss von Netflix auf das traditionelle Filmgeschäft.
Meine dritte Mission in Cannes ist es, Interviews zu führen. Oft stehen am Festival Größen Rede und Antwort, an die man sonst nie herankäme. Dieses Jahr etwa bekam ich die Gelegenheit, Al Gore zu interviewen, der seine Klima-Dokumentation »An Inconvenient Sequel: Truth to Power« vorstellte – das war ein Highlight. Mein Kollege von der Auslandredaktion war schön neidisch, nachdem er seit über zwei Jahren erfolglos versuchte, Al Gore für ein Gespräch zu gewinnen. In den letzten Jahren habe ich in Cannes auch immer wieder Gespräche mit Moritz de Hadeln für die Biografie »Mister Filmfestival« geführt. Der Schweizer hat es als künstlerischer Direktor der Berlinale (1979–2001) bisher als Einziger geschafft, das wichtigste Filmfestival der Welt in Bedrängnis zu bringen – etwa als er den Franzosen die Premiere von »Das Boot ist voll« von Markus Imhoof wegschnappte.
Insgesamt habe ich für das Buch über 200 Stunden Oral-History-Interviews mit de Hadeln und seiner Frau Erika aufgezeichnet. In Cannes habe ich aber auch Filmemacher wie Mike Leigh und Ang Lee sowie Weggefährten von de Hadeln wie Wieland Speck, langjähriger Leiter der Berlinale-Sektion Panorama und den australischen Kritikerpapst David Stratton für das Buch interviewt. Für solche Begegnungen ist Cannes optimal. Sehr aufschlussreich war dieses Jahr das Gespräch mit dem russischen Regisseur Andrey Zvyagintsev, der unter de Hadeln 2003 mit seinem Erstling »The Return« in Venedig den Goldenen Löwen gewonnen hatte. Er erzählte mir, dass der damalige Regierungschef Berlusconi de Hadeln unter Druck gesetzt habe, einen italienischen Film gewinnen zu lassen, der Schweizer sich aber geweigert habe einzulenken. Anhand dieses Beispiels sieht man, dass Filmfestivals eine Bedeutung haben, die weit über die siebte Kunst hinausreicht.
Bildlegende: rechts: Christian Jungen interviewte 2004 Brad Pitt zum Film »Troy« | Christian Jungen mit Monica Bellucci, die 2001 in Berlin »Malena« vorstellte. © Christian Jungen
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