Obwohl die Aleviten die erste anerkannte Religionsgemeinschaft ohne christlichen oder jüdischen Hintergrund in der Schweiz sind, kennen sie nur wenige. Die Journalistin Kathrin Ueltschi und der Fotograf Jens Oldenburg nahmen am jährlichen Cem-Fest teil.
Hotel Hilton in Basel. Die Drehtür des Nobelhotels steht an diesem Sonntag, 19. Februar 2012, kaum still. Seit 12 Uhr mittags strömen Alevitinnen und Aleviten in den großen Saal zum Cem-Fest. Eingeladen haben die beiden Vereine Alevitisches Kulturzentrum Regio Basel und Kulturvereinigung der Aleviten und Bektaschi Basel. Erwartet werden siebenhundert Gäste, es kommen über tausend. Vor der Tür des Festsaals steht kerzengerade der Gözcü (Wächter) mit hellem Hemd und einem buntgeringelten Stab in der Hand. Seine Pflicht ist es, für Ordnung zu sorgen und die Leute an noch freie Plätze zu führen. Doch der Andrang ist zwischendurch so groß, dass auch der Gözcü den Überblick verliert. Bevor Besucherinnen und Besucher eintreten, ziehen sie die Schuhe aus und nehmen sie in einem Plastikbeutel mit in den Festsaal, um ein Chaos mit über tausend Paaren zu vermeiden. Frauen und Männer sitzen dichtgedrängt nebeneinander, eine Trennung der Geschlechter gibt es bei den Aleviten nicht. Ältere Besucherinnen und Besucher nehmen hinten auf Stühlen Platz, alle anderen auf dem Boden. Obwohl Alevitinnen im Alltag kein Kopftuch tragen, legen sich viele Frauen, junge und ältere, während der Zeremonie ein Tuch lose über den Kopf. Um 13 Uhr hätte der Cem beginnen sollen, doch auch um halb zwei treffen noch weitere Gäste ein. Alle finden einen Platz, und niemand stört sich daran, dass der Zeitplan längst durcheinandergeraten ist.
»Mit Gott und dem Kosmos eins werden«
Vier Dedes sitzen vorne auf einem Podest, leiten die Zeremonie und übernehmen die geistlichen Aufgaben. Frauen könnten ebenfalls Zeremonienmeisterinnen sein, doch auch dieses Jahr führen nur Männer durch das Fest, da sich keine Frau für dieses Amt zur Verfügung stellt. In früheren Zeiten wurde beim Cem geschlichtet und Recht gesprochen. Heute geschieht das nur noch symbolisch, trotzdem beginnt jedes Fest mit der Frage, ob Anwesende miteinander im Streit seien. Zum Zeichen von Versöhnung und Friede küssen alle ihre Nachbarin oder seinen Nachbarn auf die Wange, dann hält Dede Hasan Ali Islek eine Ansprache auf Türkisch. Er fordert seine Brüder und Schwestern auf, sich in der Schweiz gut zu integrieren, sich nicht abzuschotten, sondern aktiv in der Gesellschaft mitzuwirken.
»Versinken im Rhythmus der Musik«
Ein Cem ist eine religiöse und soziale Versammlung, an der Ansprachen und Belehrungen gehalten werden, gefolgt von Gebeten und Segnungen sowie Musik, Tanz und Geschichten. Während der Zeremonie werden zwölf Pflichten erledigt, die zu jedem Cem gehören. Der Dede übernimmt die Leitung, eine andere Person ist für den Tanz verantwortlich, eine für Ordnung oder für Licht. Neben den praktischen gehören auch rituelle Aufgaben dazu: Kerzen anzünden, gesegnetes Wasser verteilen oder mit symbolischer Waschung der Finger die Reinheit darstellen. Eine zentrale Aufgabe hat der Zakir, der für die musikalische Begleitung zuständig ist. Er spielt die Saz, ein Lauteninstrument, und singt zusammen mit den Dedes Lieder über Heilige, über das Leiden des alevitischen Volks und der zwölf Imame, insbesondere über die Ermordung Imam Hüseyins (625–680), dem verehrten dritten Iman. Es sind traurige Lieder, der Zakir wippt mit dem Körper hin und her, versinkt im Rhythmus der Musik und in den klagenden Worten. Die traurigen Texte erfüllen den ganzen Saal, Tränen fließen, Schluchzer sind zu hören und immer wieder fallen Männer und Frauen sowie der Saz-Spieler in Trance. Es dauert nur ein paar Minuten, dann entspannen sich ihre Körper wieder und die Zeremonie geht weiter, als wäre nichts gewesen. Ehrerbietend stehen die Gläubigen zwischendurch auf, halten sich die rechte Hand aufs Herz, murmeln »Allah, Allah«, knien nieder, küssen den Boden und stehen wieder auf.
»Opfermahl zum Ausklang des Festes«
Die Zeremonie dauert rund vier Stunden, ein Dienst nach dem anderen wird ausgeführt. Einer der letzten ist der Semah, der Anbetungstanz. Sechs Frauen in glänzenden roten Kleidern und drei Mädchen in bunten Trachten tanzen im Kreis. Normalerweise tanzen auch Männer mit, doch dieses Jahr hat es sich anders ergeben. Mit erhobenen Armen und hingebungsvollem Ausdruck symbolisieren sie Planeten, die um die Sonne kreisen.
Die Tänzerinnen sollen das eigene Ich verlieren und mit Gott und dem Kosmos eins werden. Nach dem stimmungsvollen Semah segnet ein Dede Wasser, das anschließend über die Gläubigen gesprüht wird. Bei diesem letzten Dienst lockert sich die Stimmung, und die Leute beginnen zu lachen, wenn sie bespritzt werden, die Trauer ist wie weggeblasen. Mit dem Lokma, dem von den Vereinsmitgliedern gespendeten Essen, endet jeder Cem. Beim Ausgang werden kleine Plastiktüten mit Gebäck und Früchten an die Gäste verteilt, die alle mit nach Hause nehmen. Rasch leert sich der Hotelsaal, und die Leute strömen Richtung Kleinbasel ins Begegnungszentrum Union, wo das Fest mit dem Opfermahl, bestehend aus Lammfleisch, Reis und Fladenbrot, ausklingt.
Die Aleviten
Auszug aus »Verborgene Feste«
Als erste Religionsgemeinschaft ohne christlichen oder jüdischen Hintergrund wurden die Aleviten in der Schweiz anerkannt. Sie teilen die Ursprungsgeschichte und zahlreiche Glaubensvorstellungen mit den Schiiten. Als Mohammed im Jahr 632 starb, entbrannte ein Streit über die rechtmäßige Nachfolge des Propheten, der zur Spaltung des Islams führte. Die Mehrheit bildeten die Sunniten, die Minderheit die Schiiten. Wie sie folgten auch die Aleviten Mohammeds Cousin Ali ibn Abi Talib. Als selbständige religiöse Tradition etablierten sie sich im 13. Jahrhundert. Viele alevitische Vertreterinnen und Vertreter in Europa betonen jedoch ihre nicht-muslimischen Wurzeln. Sie verweisen auf vorchristliche Gelehrte und Priester, wie beispielsweise auf Zarathustra. Historisch gesehen ist der Islam aber zentral für das Alevitentum, auch wenn eigenständige Glaubensinhalte weiterentwickelt wurden. In der alevitischen Lehre ist die Seele unsterblich. Sie wird aber nicht wiedergeboren, sondern bleibt ein Teil der Natur und vereinigt sich im Kosmos mit Gott. Der Koran ist eines von mehreren heiligen Büchern, die sie kritisch lesen und deren Inhalte sie zeitgemäß interpretieren. Das islamische Gesetz Scharia ist für sie nicht bindend, beispielsweise sind Schweinefleisch und Alkohol nicht verboten. Die meisten Aleviten leben in der Türkei, man schätzt sie auf 20–30 Prozent der dortigen Bevölkerung. In der Schweiz leben rund 70000 Aleviten.
Bildnachweis: © Jens Oldenburg
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