Spätestens seit der Erfindung der Tonaufzeichnung durch Edison hat das geflügelte Wort, dass »die Nachwelt dem Mimen keine Kränze flicht« ihre ursprüngliche Bedeutung verloren. Was die Geschichte der Gesangskunst betrifft, sind wir heute in der Lage, die Zeit um 125 Jahre zurückzublättern. Woran aber liegt es, dass Namen wie Caruso, Lanza, Callas oder Wunderlich unsterblich scheinen, während so viele Spitzenstars der jeweiligen Epochen teilweise nur noch Lexikawert besitzen?
Ein Element der Erinnerung scheint zutreffend zu sein: »Wer früh in seiner Kunst stirbt, lebt länger.« Gewiss stimmt dies auch in hohem Maß für Joseph Schmidt. Im Bewusstsein der Nachwelt ist seine akustische Hinterlassenschaft untrennbar mit dem traurigen Ende des Sängers mit 38 Jahren verknüpft. Dass der unscheinbare kleine Mann im Berlin der ausgehenden 1920er-Jahre sich in kürzester Zeit durchzusetzen vermochte, verdankte er zweifellos seiner immensen Musikalität.
Ein Tenor, der sich in drei Jahren in 40 Opernpartien im Rundfunk präsentierte, das überraschte jede noch so kritische Fachwelt. Ironischerweise wurde Schmidt nach 1933, dem als Jude der Zutritt zum Mikrofon verwehrt war, dank des Mediums Film zum Megastar. Auch optisch unterschied sich Schmidt seit »Ein Lied geht um die Welt« von jenen Tenorkollegen, die bis anhin die Leinwand beherrschten; ein einfacher, sympathischer Mann aus dem Volk – ohne jegliches Stargehabe.
Wie lässt sich das Mirakel erklären, dass Schmidt bis in unsere Zeit mit dem Prädikat einer »Jahrhundertstimme« bedacht wird? Obwohl Cornelis Bronsgeest, der Entdecker Schmidts, am Berliner Sender in seinen Erinnerungen von »Caruso-Tönen« sprach, ist ein Vergleich mit dem Doyen aller Tenöre müssig. Dieser unsinnigen Gegenüberstellung waren von Benjamino Gigli bis Mario del Monaco alle Vertreter dieser Stimmklasse ausgesetzt. Das Geheimnis in Schmidts Stimme liegt vielmehr in der Wirkung eines einmaligen, unverwechselbaren Timbres. Es ist die Farbe seines Organs, das uns wie in das Innere seiner Persönlichkeit hören lässt. Bekanntlich war Schmidt ein äußerst liebenswerter, bescheidener, positiv denkender Mensch, und womöglich liegt die Erklärung in seiner eigenen Aussage: »Wer kein Herz hat, kann auch keine seelenvolle Stimme haben.«
Die Ansicht einiger Puristen, die Schmidt gerne als »Außenseiter« bezeichneten, weil er – ähnlich wie Costa Milona oder Mario Lanza – kaum auf der Opernbühne erschien, müssen verstummen, wenn sie jene Aufnahmen heranziehen, die jedem Vergleich sogenannter Jahrhundert-Interpretationen standhalten. Seine stärksten Momente hat Schmidt uns in Auszügen z.B. aus »Die Jüdin«, »Le Cid«, »Troubadour« oder der »Toten Stadt« hinterlassen. Obwohl die Stimme dem lyrischen Fach zuzuordnen ist, sprengte sein immenses Repertoire jegliche Grenzen. Welch ein Vertrauen muss Bronsgeest – der in Hamburg noch neben Caruso auf der Bühne stand – in den völlig unbekannten Sänger gehabt haben, dass er Schmidt in einer Radio-Liveübertragung von Meyerbeers »Afrikanerin« als Vasco da Gama besetzte?
Julius Bürger, Mitarbeiter beim Rundfunk, erinnerte sich, dass Schmidt jede Partie innert zwei Tagen sendereif beherrschte. Nur das machte es ihm möglich, die unterschiedlichsten Rollen von Mozart, Rossini, Bellini, Donizetti, Weber, Flotow, Puccini bis zu Richard Strauss zu singen. Allein von Verdi beherrschte er acht Partien.
Dank der Tätigkeit als Kantor in seiner Heimatstadt Czernowitz verfügte Schmidt über eine ungewöhnliche Fertigkeit im Koloraturgesang. Die ersten Aufnahmen des 24-Jährigen dokumentieren diese Sparte seines Wirkens und gehören zum wertvollsten, was er je für die Schallplatte einspielte. Auch später verblüffte Schmidt in Konzerten sein Publikum etwa mit Mozarts für Sopran geschriebenem »Halleluja«, so in Wien, Salzburg, von Zürich bis Helsinki ebenso wie in der New Yorker Carnegie Hall. Seine strahlenden Spitzentöne bis zum hohen D prädestinierten Schmidt geradezu für das Belcanto-Repertoire.
Schmidts Interpretationsstil war nicht unumstritten, und die Kritik bemängelte oft, dass er bei Zugaben auch Schlager aus seinen Filmen mit einbezog. Was man aber heute als Tenorschnulzen betrachten mag, war damals eine Referenz an den Geschmack der Zeit. Schmidt selber äußerte sich diesbezüglich: »Was soll ich machen? Die Leute gehen einfach nicht aus dem Saal, ehe ich ihnen ›Ein Lied geht um die Welt‹ gesungen habe …«
Der Versuch, Schmidt mit anderen Tenören zu vergleichen, ist äußerst schwierig. Bis auf das heldische Fach schien seine Stimme beinahe universal. Rein lyrischen Kollegen wie etwas Tito Schipa, Petre Munteanu oder Ratko Delorko war er mit seiner aufleuchtenden, kraftvollen Höhe überlegen. In dem Punkt wäre ein Pendant etwa in Jussi Björling zu sehen. Auch der große Schwede verfügte über ein nicht sehr massiges Volumen, das aber von enormer Tragweite war. Ähnlich vermochte auch Schmidt seine eher schwach entwickelte Tiefenlage dadurch wettzumachen. Dieses Manko hätte ihm – abgesehen von seiner geringen Körpergröße – das Bestehen auf großen Opernbühnen zusätzlich erschwert. Umso geeigneter war die Stimme für das Mikrofon, dem er den Hauptteil seines Erfolges verdankte.
Als eine Ausnahme in der Gesangskunst wird der Name Joseph Schmidt auch künftig in Erinnerung bleiben. Seine über 200 Aufnahmen, in mehr als 60 verschiedenen CDs greifbar, und seine Filme – seit Kurzem auf YouTube auch in Color – werden ihm einen ersten Platz in der Geschichte erhalten, so lange sich Menschen für schöne Stimmen begeistern.
Bildlegende: links: Joseph Schmidt in Kostüm und Maske für die Revue »Die drei Musketiere« (R. Benatzky), großes Schauspielhaus Berlin, November 1929 ǀ Mitte: Filmplakat »Wenn du jung bist, gehört dir die Welt« (Uraufführung Wien, 31. Januar 1934) ǀ rechts: Autogrammstunde im niederländischen Amsterdam, November 1934; © Joseph-Schmidt-Archiv, Oberdürnten
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