Zu einem bestimmten, aber nicht im Voraus bestimmbaren Zeitpunkt trete beim Schreiben die Intuition zurück, um einer »Besessenheit« Platz zu machen, die ihren Willen zu einem Plädoyer für den zu Unrecht in Misskredit geratenen Menschen noch verstärke. So erging es Mary Lavater-Sloman auch bei der Arbeit an der Biographie Heinrich Pestalozzis. Und nicht weniger bedeutsam war ihr die Liebe zu ihren Protagonisten.
Die Menschen neigten bedauerlicherweise dazu, das Ungenügende im Mitmenschen zu sehen und nicht mehr zu vergessen, als fänden sie in den Fehlern der anderen eine gewisse Beruhigung über die eigenen Fehler, und dies nicht nur bei lebenden Menschen, den historischen Größen ginge es ebenso. Dieser Einstellung begegnete Mary Lavater-Sloman immer wieder in Biographien. Sie empfand diese Schreibhaltung als zutiefst ungerecht, womit sich eine ihrer Triebfedern für ihre Biographien erklären lässt: Sie wollte mit ihrem Werk Gerechtigkeit schaffen, den Porträtierten als ihren »lebendigen Freund« darstellen und den Lesenden nahebringen. Natürlich sollten dabei die Schattenseiten dieses Menschen nicht verschwiegen werden, auch das gehöre zur menschlichen Existenz, gerade auch bei herausragenden Figuren der Geschichte.
Zu diesen Persönlichkeiten zählte sie auch Heinrich Pestalozzi. Bereits im Vorwort zu seiner Lebensbeschreibung wird deutlich, wie sehr sie ihn verehrte: »Heinrich Pestalozzi, welch ein Mann! Er war nicht nur einer der größten Schweizer, er war einer der größten Europäer, wenn man an die Reihe der Helden auf dem Schlachtfeld des Fortschritts denkt. Wahrhaftig, seine Gestalt sollte ein lebendiger Begleiter für jedermann sein, ein Vorbild für die Menschen, die guten Willens sind, und ein Trost für alle, die sich auf ihrem Lebensweg mit bösen Mächten schlagen.«
Nicht Pestalozzis literarisches Werk oder seine pädagogischen Gedanken wollte sie dabei in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellen, sondern den Menschen, seine Beweggründe und sein Wirken auf die Zeit. Selbstverständlich geben Tagebücher, Briefe und andere persönliche Dokumente dar-über Auskunft, doch damit solche Schilderungen überzeugen und den Leser ansprechen, müssten sie in irgendeiner Form selbst erfahren worden sein. Schon in jungen Jahren sah Mary Lavater-Sloman Menschen in Elend und Armut leben, zunächst in ihrer Heimatstadt Hamburg, später in St. Petersburg, wohin ihre Familie zog, als sie 18 Jahre alt war: »Ohne mir klare Rechenschaft zu geben, empörte mich schon als junges Mädchen die soziale Ungerechtigkeit, die im Anfang unseres Jahrhunderts, bis nach dem Zweiten Weltkrieg, in allen europäischen Ländern herrschte. Ohne diesen Einfluss hätte ich Jahrzehnte später weder die Gestalt der heiligen Elisabeth noch die Johann Caspar Lavaters, oder gar Pestalozzis, mit aller Anteilnahme beschreiben können.« An eine Szene in St. Petersburg erinnerte sie sich besonders deutlich: »Nein, nicht die ganze Stadt war erhellt; aus den Armenvierteln kamen unzählige Bettler hervor, standen barfuß im Schnee und liefen neben den Schlitten her, deren breite Bärendecken bis in den Schnee schleiften, oder flehten die Passanten um eine Kopeke an.«
Diese Reminiszenzen mögen mitgeschrieben haben, als die Autorin die Anfänge von Heinrich und Anna Pestalozzis Armenanstalt auf dem Neuhof verfasste: »Von der Straße holte er die Bettelkinder sowie verstoßene, blödsinnige Kinder aus den Elendshütten. Er ließ sich von seinen adeligen Freunden aus der Umgegend Familien bezeichnen, die ihre zahlreichen Kinder hungern sahen. Er holte sie selber, er trug sie auf dem Rücken und auf den Armen, wenn sie zu schwach zum Gehen waren.«
Ihre Anteilnahme an Pestalozzi zeigt sich nicht nur hier, in dieser Episode, sie erstreckt sich auf sein gesamtes Leben und lässt bisweilen vergessen, dass zwischen Heinrich Pestalozzis Tod und ihrer Biographie beinahe hundertdreißig Jahre lagen, Jahre, während derer sich die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Lebensumstände grundlegend verändert hatten. Mary Lavater-Sloman, eine gebildete, welterfahrene, erfolgreiche Schriftstellerin, schrieb in der Mitte des 20. Jahrhunderts – als erste Frau – über einen des Öfteren am Rande der Armut lebenden, nach ihrem Dafürhalten verkannten und zu Unrecht verspotteten Mann, der die politischen Umwälzungen während der Französischen und später der Helvetischen Revolution miterlebte, sie fühlte sich in ihn ein, um ihn von dem »Dunkel der letzten Jahre, das an seinem Namen haften blieb, und dem dumpfen Unbehagen, das von Generation zu Generation weitergegeben wurde«, zu befreien.
Doch welcher Brückenschlag vermochte die Kluft zwischen der Schriftstellerin von 1954 und dem Armenvater des ausgehenden 18. resp. 19. Jahrhunderts zu überwinden? Selbstverständlich ist für eine empathische Charakterisierung das sorgfältige und möglichst umfassende Quellenstudium eine wichtige Voraussetzung, aber es braucht noch mehr, damit wir als Leserin oder Leser den Protagonisten als gefühlsintensiven Menschen kennenlernen können. In einem ihrer Vorträge lüftete Mary Lavater-Sloman das Geheimnis: Es war ihre Intuition, die sie als »ein luftiges Bauwerk« beschreibt, »das jedoch auf sehr realen Pfeilern ruht, nämlich einerseits auf einem gründlichen Wissen um das jenseitige Ufer der Vergangenheit und andererseits auf einer vernünftigen, ruhig abwägenden Menschenkenntnis auf unserer Seite.« Zu einem bestimmten, aber nicht im Voraus bestimmbaren Zeitpunkt trete dann allerdings die Intuition zurück, um einer »Besessenheit« Platz zu machen, die ihren Willen zu einem Plädoyer für den zu Unrecht in Misskredit geratenen Menschen noch verstärkte. Darüber hinaus erwähnte Mary Lavater-Sloman eine weitere, nicht minder bedeutsame Voraussetzung ihres Schreibens: die Liebe zu ihren Protagonisten.
»Man kann nie genug lieben, das haben mich meine Studien immer wieder gelehrt«, betonte sie. Dennoch: Ein liebendes Herz beabsichtige nicht, wie es bei manchen Chronisten oder Wissenschaftlern den Anschein habe, die Zergliederung und damit die Zerstörung des Protagonisten, sondern möchte den Lesenden deutlich machen, dass auch die größten Gestalten nur Menschen waren, keine entrückten, unnahbaren, sondern dazu angetan, uns Vorbild, Trost und Geschenk zu sein.
Die Liebe zu allen von ihr porträtierten Menschen ist bei Heinrich Pestalozzi gut aufgehoben, denn auch für ihn war die Liebe zu den Mitmenschen eines seiner wichtigsten Motive für seine Tätigkeiten. Und gerade diese Liebe zum Mitmenschen war zu seiner Zeit ungewöhnlich und macht Pestalozzi neben seinen pädagogischen Leistungen zu einer herausragenden Persönlichkeit. Dies darzustellen, so spürt man in jeder Zeile der Biographie, war Mary Lavater-Sloman ein großes Anliegen. Es war eine elementare, zuweilen leidenschaftliche Liebe, die Pestalozzi, wie die Autorin ebenfalls darstellt, zu den unfasslichsten Entscheiden hinreißen konnte, allen Warnungen seiner Umgebung, aber auch allen erlittenen Niederlagen zum Trotz. Wenn seine Ehefrau, Anna Pestalozzi-Schulthess, oder Geldgeber und andere nahestehende Menschen die Hoffnung längst schon aufgegeben hatten – er selbst glaubte stets an den Erfolg. Der Wunsch, die Ärmsten der Gesellschaft zu schulen und zu erziehen, war so tief in seinem Wesen eingeschrieben, dass ihn weder finanzielle Schwierigkeiten noch andere Hindernisse von seinen Plänen abhalten konnten. Diese »vollkommene Hilflosigkeit bezüglich materieller Dinge« ging einher mit seiner Wertehierarchie, wonach die Liebe gegenüber der Ökonomie stets Vorrang hatte. »Heinrich Pestalozzi war einer der großen Liebenden, die die Fackel des Guten, die immer wieder zu erlöschen droht, neu entzündeten, die seit Menschengedenken von einer geweihten Hand zur andern geht und, wills Gott, nie erlischt. Wer den Lebensgang Heinrich Pestalozzis verfolgt, darf nie aus den Augen lassen, dass es den unsichtbaren Heiligen in ihm gab, der Wunder der Liebe bewirkte, und den sichtbaren Mann, der durch Ungeschicklichkeit und allerlei menschliche Mängel seinen Lebensfaden heillos verwirrte. Doch beeinträchtigten diese ›Mängel‹ die Lauterkeit und Wahrhaftigkeit seines Wesens in keiner Weise.« Aus diesen Zeilen spricht eine tiefe Verehrung, die auch im Scheitern seiner Unternehmungen noch eine menschliche Größe wahrnahm.
Manche Aussagen Heinrich Pestalozzis hinterlassen jedoch auch den Eindruck, dass er alleine mit seinen Ideen und Problemen war und er sich auf niemanden, auch nicht auf seine Gattin, verlassen konnte. Auch Mary Lavater-Sloman legt diese Lesart über die Beziehung nahe: »Über den Abstand von zwei Jahrhunderten gesehen, scheint es kein gnädiges Schicksal zu sein, das hier die Knoten schlang. Nicht dass Anna Schulthess Pestalozzis unwert gewesen wäre, sie war von durchaus edler, vornehmer Denkungsart, aber festverankert in dem eng umgrenzten Boden ihrer patrizischen Herkunft und in der Macht, die Geld und Rang verleihen. Eine Tochter aus dem Hause eines Zunftherren und Kaufmannes konnte nur ein Hemmnis auf Pestalozzis Weg sein.« Betrachtet man hingegen die Beziehung nicht aus der Sicht Heinrichs, sondern aus der von Anna Pestalozzi-Schulthess und berücksichtigt man die erst in den letzten rund zwanzig Jahren zugänglichen Schriften, so war Anna Pestalozzi eine auch für die damalige Zeit außergewöhnliche Frau und Gattin. Sie lebte, wie ihr Ehemann, in Zürich, doch im Gegensatz zu ihm stammte sie aus einer wohlhabenden, hochangesehenen Familie. So wehrten sich ihre Eltern vehement gegen die zunächst heimliche, später offen eingestandene Liebe ihrer einzigen Tochter Anna, da weder Heinrichs Herkunft noch seine politischen Ansichten mit den ihrigen vereinbar waren. Allem elterlichen Widerstand zum Trotz – sie war immerhin schon 31 Jahre alt, Heinrich sieben Jahre jünger – und unter Aufbietung all ihrer Kräfte setzte Anna Schulthess die Heirat schließlich durch, um sich mit Heinrich, ganz im Sinne Rousseaus, auf dem Land und in ärmlichen Verhältnissen niederzulassen. Damit widersetzte sie sich den im Zürcher Bürgertum des 18. Jahrhunderts herrschenden Konventionen und nahm in Kauf, von ihrer Familie verstoßen zu werden. Im Laufe ihres Lebens stellte Anna Pestalozzi ihrem Mann ihr ganzes Vermögen zur Verfügung, ihre Anwartschaft ebenso wie die Erbschaften von Mutter, Vater und aller vor ihr verstorbenen Brüder, obwohl sie stets wusste, dass auch jedes weitere Unternehmen, das er mit größtem Enthusiasmus in Angriff nahm, zu scheitern drohte. Auch ihr Beitrag zu Heinrich Pestalozzis literarischem Erfolg kann aufgrund der heutigen Forschungen belegt werden. So stammen einige Manuskripte seines literarischen Werks von ihrer Hand, was darauf hinweist, dass sie seine Texte lektoriert und bezüglich Rechtschreibung korrigiert hatte. Nicht immer wollte oder konnte sie ihrem Mann an seine Wirkungsstätten folgen, da sie wiederholt an lang andauernden fiebrigen Erkrankungen litt, ihre offenen Wunden an den Beinen kaum zu heilen waren und sie sich insgesamt nicht einer so robusten Gesundheit erfreute wie ihr Ehemann. Wenn jedoch ihre Anwesenheit erforderlich war und sie sich gesundheitlich in der Lage fühlte, leistete sie insbesondere als Mentorin bei Konflikten und umsichtige Ratgeberin wertvolle Dienste. 46 Jahre lang, bis zu Anna Pestalozzis Tod im Jahr 1815, waren die beiden verheiratet. Nie verloren sie, trotz aller Krisen und Enttäuschungen, die gegenseitige Achtung und Wertschätzung. Es ist unter anderem diese Haltung, die die Geschichte von Heinrich und Anna Pestalozzi zeitlos macht – und die auch Mary Lavater-Slomans Schreiben ihrer Biographien leitete.
Dagmar Schifferli, Autorin von »Anna Pestalozzi-Schulthess – Ihr Leben mit Heinrich Pestalozzi«; Auszug aus dem Nachwort in Mary Lavater-Sloman, »Heinrich Pestalozzi«
Bildlegende: Im Frühjahr 1771 zog die Familie Pestalozzi in den neu erstellten Neuhof bei Birr. Er war zugleich Heim und Arbeitsstätte. © Stiftung Pestalozzianum
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