Das Kind ist da, die Freude groß – doch plötzlich trübt ein Problem das neue Mutterglück: Das Stillen funktioniert nicht. Verwirrt von viel zu vielen gutgemeinten Ratschlägen weiß die Mutter bald nicht mehr, was sie tun soll.
Die frischgebackene Mutter sieht sich beim Stillen plötzlich mit ungeahnten Schwierigkeiten konfrontiert − es geht einfach nicht! Dabei ist Stillen doch angeblich die natürlichste Sache der Welt.
Man hört und liest davon, dass Muttermilch ein unerlässliches Mittel gegen Allergien, Diabetes, Übergewicht, verminderten IQ und für das Seelenheil des Kindes darstellt. 94% der Kinder in der Schweiz kommen mindestens für eine kurze Zeit in den Genuss von Muttermilch. Als Mutter, die nicht stillt, macht man also nach Ansicht der Allgemeinheit etwas falsch. Dies führt zu Verunsicherungen und einem Gefühl des Versagens.
Stillen steigert im Idealfall das mütterliche Wohlbefinden. Innerer wie äußerer Stress hemmen jedoch durch Ausschüttung von Stresshormonen die Stillhormone und führen somit häufig auch zu Stillproblemen. Oft sind sich Frauen der psychischen Blockaden nicht bewusst und sehen bloß das frustrierende Ergebnis: Sie können ihr Kind nicht so ernähren, wie es von der Natur gedacht ist. So kann eine Frau beispielsweise durch die Verantwortung, allein für die Betreuung des Kindes zuständig zu sein, überfordert werden. Stillen ist zudem eine Tätigkeit, die überraschend viel Zeit in Anspruch nehmen kann, und dies führt bei manchen Frauen zu Zeitstress. Möglicherweise wird aber auch die intensive Nähe zum Kind schlecht ertragen, der Partner steigert durch deplatzierte Bemerkungen das Unbehagen weiter – manche Männer sind neidisch auf die intime Mutter-Kind-Beziehung oder befürchten, dass das Stillen ihr Sexualleben beeinträchtigt. Umgekehrt möchte manche Mutter aufgrund der Sorge um das Aussehen ihrer Brüste abstillen.
Oft wirkt auf die Frauen zusätzlich ein großer Druck von anderen Personen mit Stillerfahrungen, die von der alleingültigen Richtigkeit ihrer Vorgehensweise überzeugt sind. Dies kann zu verletzend ehrlichen Aussagen führen, wie diese beiden Sätze aus einem Internetforum aufzeigen:
»Wenn eine Mutter ihr Kind nicht stillen möchte, sollte sie gar keine Kinder in die Welt setzen.«
»Mit der Geburt eines Kindes geben beide Elternteile Freiheiten ab und stellen ihre eigenen Bedürfnisse hintenan. Wenn es für das Kind besser ist, gestillt zu werden, soll es gestillt werden. Die Bedürfnisse des Kindes kommen an erster Stelle. Die Vorlieben der Eltern spielen keine Rolle mehr.«
Warum auch immer sich eine Mutter dafür entscheidet, abzustillen bzw. gar nicht erst damit anzufangen: Es ist ihre ganz persönliche Geschichte, die diese Entscheidung beeinflusst und darf von außen nicht bewertet werden. Nicht zu stillen kann durchaus eine bewusste und kluge Entscheidung sein, ein Prioritäten-Setzen, denn jede Mutter kann nur für sich allein entscheiden, was sie ihrem Kind zu geben fähig ist. Keine Mutter, die ihr Kind abstillt, sollte unter dem Gefühl leiden müssen, sie habe nun dadurch sein Schicksal besiegelt. Sie kann sich stattdessen auf ihre Ressourcen konzentrieren und die Beziehung zu ihrem Kind auf andere Weise stärken.
Denn eine stillende Mutter ist nicht automatisch eine liebevollere Mutter.
Die Mutter-Kind-Beziehung wird durch das Stillen im Idealfall zwar positiv beeinflusst; aber auch eine nicht-stillende Mutter kann durch eine sensible Betreuung des Kindes, durch viel Nähe, Zärtlichkeit und Körperkontakt seine Entwicklung unterstützen. So kann sie ihrem Kind zum Beispiel die Flasche immer im Arm oder sogar an der nackten Brust geben, es gleichzeitig streicheln, mit ihm sprechen und es anschauen. Häufiges Tragen in einem Tuch, Baden, Massagen und liebevolles Kuscheln sind unabhängig vom Stillen wichtige Bestandteile einer tragfähigen Mutter-Kind-Beziehung.
Das Thema Stillen schlägt auch im 21. Jahrhundert hohe Wellen. Zu hoffen ist, dass selbstbestimmte Entscheidungen vermehrt gefördert und geachtet werden und sich die Fachwelt − Hebammen, Ärzte, Stillberaterinnen − für eine Mutter und Kind fördernde Begleitung in dieser sensiblen Phase engagieren.
Bildnachweis: fancycrave1 auf Pixabay
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