Der Künstler Peter Wüthrich und der Kunsthistoriker und Kurator Rudolf Koella sind sich einig, dass das Kunstsystem in einem fundamentalen Wandel ist. Das zeigt sich gemäß Wüthrich und Koella auch bei der jüngsten Generation von KünstlerInnen und KunsthistorikerInnen, die ein ganz anderes Selbstverständnis haben als sie.
Dass in turbulenten politischen Zeiten auch die Kunst im Wandel ist, ist nicht verwunderlich, wenn die Künstler und das Kunstsystem ein sensibles Messgerät für die gesellschaftlichen Vorgänge sein sollen. In der Annäherung von Peter Wüthrich (1962) und Rudolf Koella (1942), die sich zuvor noch nie begegnet sind, wird schnell klar, dass sie ein ähnliches ästhetisches Verständnis haben. Sie sind von denselben Künstlern und Kunstschaffenden begeistert, und sie spielen sich die Namen im Gespräch locker zu. Ebenso klar und deutlich zeigt sich ihre kritische Sicht auf die gegenwärtigen Veränderungen im Kunstsystem. Dabei wird auch deutlich, dass sich ihre Lebenswelt und ihr Verständnis von Kunst von demjenigen der NachwuchskünstlerInnen unterscheiden.
Diskurs in der Enge
Rudolf Koella ist Peter Wüthrichs Kunst zum ersten Mal in der Soloausstellung »Short Stories« 2015 begegnet. Seit über 25 Jahren ist das Objekt Buch die Grundlage von Wüthrichs künstlerischer Auseinandersetzung. Von den gezeigten Werken in der Plutschow Gallery in Zürich war Koella sehr angetan. Nun, da sich die beiden zum ersten Mal gegenübersitzen, sind sie sofort mitten in einem Gespräch über Bern, wo Wüthrich die meiste Zeit gelebt und gearbeitet hat. Koella findet, die momentane Berner Kunstszene sei ein etwas trauriges Kapitel. Wüthrich gibt ihm recht und ärgert sich zusätzlich darüber, dass in den letzten Jahren architektonisch nichts Ansprechenderes entstanden sei, weder beim Bahnhof noch den Museen. Sie sind sich einig, dass der Rummel und die Ausgaben, die das Erbe der Kunstsammlung Cornelius Gurlitt für das Kunstmuseum Bern zur Folge hatte, in keinem Verhältnis zum Wert der Sammlung stehe. Auch mit der Situation der Kunsthalle sind sie schon seit einigen Jahren unzufrieden. In diesem Haus, das in den 1960er-Jahren unter Harald Szeemann weltberühmt war, werde nicht mehr weit »über den eigenen Bauchnabel« geschaut und wirklich visionär gearbeitet.
Paul Nizon publizierte 1970 das oft zitierte Buch »Diskurs in der Enge. Aufsätze zur Schweizer Kunst«. Anfang der 1990er-Jahre war es auch Peter Wüthrich zu eng in Bern; er wollte ins Ausland. Der Absprung gelang, er hatte seine erste Soloausstellung 1992 in der Galerie Jule Kewenig in Köln. Dort sah der einflussreiche Galerist Thomas Salomon seine Werke, und im Jahr darauf war Wüthrichs Kunst in dessen Galerie in Los Angeles zu sehen. Wüthrich stellt regelmäßig in Mailand, London, Paris, Basel oder Zürich aus. »In der Schweiz war es jedoch immer etwas schwerer für mich: Hier bin ich ›der Berner mit den Büchern‹. Im Ausland werde ich weniger in eine Schublade gesteckt, mein Werk wird mehr von einer reflektierten, intellektuellen Warte aus wahrgenommen.« Rudolf Koella gibt zu bedenken: »Ein solch reiches Netzwerk im Ausland und diese Ausstellungsmöglichkeiten haben wenige, auch dass du von der Kunst leben kannst, ist nicht selbstverständlich. Ich kenne viele gute KünstlerInnen in der Schweiz, die einer Arbeit in einem Kino oder an einer Kasse nachgehen müssen, damit sie über die Runden kommen.«
»Das kann ich ja googeln«
Seit 2016 ist Peter Wüthrich Mitglied der Kunstkommission des Kantons Bern und kommt in dieser Funktion oft mit jungen KünstlerInnen oder StudentInnen der Hochschule der Künste Bern in Kontakt. Er bestimmt mit, wer Stipendien oder Preise erhält. Dabei fällt ihm immer wieder auf, dass sie wenig bis gar keine Ausstellungserfahrungen haben, sie müssten mehr riskieren, rausgehen und ihre Kunst zeigen. Hört man Peter Wüthrich zu, so scheint es, dass die jüngste Generation von KünstlerInnen eine ziemlich andere Auffassung von Kunst und einen anderen Umgang mit ihr haben als er. Vieles von dem, was sie künstlerisch tun, erschöpfe sich in der Nachahmung von Bestehendem, von aktuellen, hippen Positionen. Das hat womöglich auch damit zu tun, dass die Kunsthochschulen zu Wüthrichs Zeit, und ebenso zuvor, einen weniger prägenden Einfluss hatten. Peter Wüthrich lernte sein Handwerk wie viele seiner Künstlerkollegen in einer Grafikerlehre. Er tat es beim bekannten und einflussreichen Grafiker und Künstler Kurt Wirth, der nebst Plakaten für Swissair und SBB auch Bücher gestaltete.
Wüthrich war bereits in der Ausbildung ein Fan von Künstlern wie Robert Motherwell (1915–1991) und begeistert vom Schweizer Maler und Grafiker Hans Falk (1918–2002). Diese hätten zu seinen frühen »immateriellen Lehrern« gehört. Rudolf Koella kennt die beiden selbstverständlich und ergänzt, dass bei Falk auch dessen Lebensstil zur Faszination gehörte: »Sein Leben in New York, später in Stromboli, ruhelos, immer unterwegs; er suchte das Unbequeme, sperrige, mal malte er figurativ, mal abstrakt.« Ein solches Interesse der Jungen für KünstlerInnen der älteren Generation kann weder Wüthrich noch Koella ausmachen. Der Nachwuchs beschäftige sich in ihrer Wahrnehmung vor allem mit gleichaltrigen KünstlerInnen, ein Wissen um die Kunstgeschichte könne man nicht voraussetzen. »Sie sagen: Das kann ich ja googeln, wenn man sie darauf anspricht«, kommentiert Koella trocken. Peter Wüthrich berichtet von einer Erfahrung in Straßburg: »Ich erhielt die Chance, an der Kunstschule eine Ausstellung zu machen. Da fragte ich den Direktor, ob ich vielleicht AssistentInnen haben könnte, Studierende, die mir beim Aufbau helfen. Seine Antwort: ›Das machen Studenten nicht, die haben kein Interesse daran.‹« Gleiches kennt auch Rudolf Koella bei den KunsthistorikerInnen: »Ich bin immer wieder verwundert, dass mir keine Studierende beim Ausstellungsmachen helfen wollen. Man kann dabei unglaublich viel lernen.« Beide hätten am Anfang ihrer Karriere eine solche Gelegenheit mit Handkuss angenommen.
Dem Vergessen entreißen
Einem seiner größten Lehrer hat Rudolf Koella soeben in Form einer Biografie ein Denkmal gesetzt, »um ihn dem Vergessen zu entreißen«: Gotthard Jedlicka (1899–1965). Der Kunstschriftsteller lehrte von 1939 bis zu seinem Tod als Professor für Kunstgeschichte an der Universität Zürich; Koella war sein letzter Assistent. Jedlicka, zu seiner Zeit sehr unkonventionell, war der erste Professor der Kunstgeschichte, der sich der Moderne und der Gegenwartskunst annahm und sich für lebende Schweizer Künstler wie Max Gubler oder René Auberjonois einsetzte. Zuvor endete die Kunstgeschichte an den Universitäten Ende 19. Jahrhundert, der Impressionismus galt bereits als Anfang des Zerfalls der Kunst.
Rudolf Koella ist Experte von Félix Vallottons Werk, schrieb bereits seine Dissertation über ihn. Er hat viele Ausstellungen mit Kunst der klassischen Moderne und zu praktisch allen bekannten Schweizer Künstlern des 20. Jahrhunderts kuratiert. Und obwohl Koella bei Gotthard Jedlicka mit der Gegenwartskunst in Kontakt kam, bezeichnete er es ein »Sprung ins kalte Wasser«, als er 1973 Direktor und Kurator am Kunstmuseum Winterthur wurde (damals nannte man seine Funktion »Konservator«) und in den ersten beiden Jahren viele Gegenwartskunst-Ausstellungen zeigte. Denn nach dem Tod von Jedlicka hatten aktuelle Künstler keine Chance mehr auf die Wahrnehmung an der Universität. 1974 führte dann auch eine Ausstellung mit einem Querblick über die Schweizer Gegenwartskunst zu hitzigen Diskussionen und fast zu seiner Entlassung. Junge Kunst wurde damals in Galerien und Kunsthallen gezeigt. »Für die Auswahl bei der Ausstellung haben wir zwei Frauen angestellt: Adelina von Fürstenberg und …« Da fällt ihm Wüthrich ins Wort: »Mit Adelina mache ich viele Projekte! Ich war mit ihr in Armenien, Sao Paolo, Venedig. Durch sie ist auch Roman Plutschow auf mich aufmerksam geworden und nun einer meiner Galeristen.«
Zwischen Blockbuster und Galeriensterben
Mit der Ausstellung zu den Schweizer Gegenwartskünstlern stieß Rudolf Koella damals also ebenfalls bei den älteren Generationen auf Unverständnis. 23 Jahre später gehörte Peter Wüthrich in der legendären Ausstellung »Freie Sicht aufs Mittelmeer« zu den eingeladenen zeitgenössischen Schweizer Künstlern. Sie wurde selbstverständlich im Kunsthaus Zürich und der Schirn Kunsthalle in Frankfurt gezeigt. Ausstellungsmacher Rudolf Koella sieht allerdings in den Museen klar die Tendenz, weniger Gegenwartskunst zu zeigen. Dies habe einen einfachen Grund: Sie ziehen nur sehr selten die Massen ins Museum. Diese benötigen jedoch möglichst viele BesucherInnen, damit sie wiederum Subventionen erhalten und für Sponsoren interessant sind. Das führe dazu, dass die Museen »die Nase in den Wind halten und schauen, was läuft«. Sprich: Museen gehen immer weniger Risiken ein, zeigen, was gefällt und ein sichere Wert ist: sogenannte Blockbuster-Ausstellungen über van Gogh, Giacometti oder Picasso.
Was die Situation der Galerien betrifft, sind sich Koella und Wüthrich einig: Das Galeriensterben wird weiter zunehmen, Besserung ist keine in Sicht. »Es kann praktisch keine Galerie mehr von der Kunst leben«, sagt Koella und fügt überspitzt hinzu: »Am Schluss werden es dann halt nur noch drei Galerien sein, die den Markt bestimmen.« Ein Problem ist, dass die Leute nur noch an Vernissagen in die Galerie gehen, danach sitzen die Galeristen alleine in ihren Räumen, für die sie hohe Miete zahlen müssen. Das ist auch der Grund, weshalb Wüthrichs Galerist Roman Plutschow Ende Juni die wunderschönen Galerie-Räumlichkeiten aufgegeben hat und in Zukunft zu Pop-up-Ausstellungen einladen wird.
Es gibt aber durchaus auch Lichtblicke für die zwei Kunstschaffenden. Rudolf Koella ist begeistert von William Kentridges Ausstellung im Kunstmuseum Basel. Gar als »fantastisch« bewertet sie Peter Wüthrich: »Er spielt unglaublich virtuos mit verschiedenen Medien und Ideen. Er hat ein solch reichhaltiges Repertoire, dass viele Künstler draus schöpfen könnten.« Und Koella ergänzt zum Werk des Südafrikaners: »Kentridge ist natürlich hoch politisch, aber nicht in aufdringlicher Art. Man muss es gar nicht richtig verstehen, man spürt es einfach.« Damit formulieren die beiden zum Schluss ihrer Begegnung ganz nebenbei ihr Verständnis von guter Kunst.
Mehr zum Buch »Peter Wüthrichs Odyssee«
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Bildnachweis: © Felix Ghezzi (rechts, links), © Peter Wüthrich (Mitte)
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